Tagsüber im Museum

Arbeitswelt Wer von Hilfsjobs lebt, hat ein hartes Leben. Aber bezahlt werden fürs Warten, das ist doch schön, oder? Ein Selbstversuch als Museumswärter

Wie fühlt es sich an, öffentliche Toiletten zu schrubben? Sind Sargträger wirklich schwermütige Menschen? Was erleben Fußballmaskottchen bei der Arbeit? Und was Sexshop-Aushilfen? Solche Fragen standen am Anfang meiner Selbstversuche in elf der undankbarsten, skurrilsten und am schlechtesten bezahlten Hilfs- und Nebenjobs. Dass auch die Arbeit als Museumswärter ein solcher „Horrorjob“ sein würde, hatte ich nicht erwartet. Rumstehen, ein wenig streng gucken, das klang eigentlich ganz leicht. Nun, ich sollte mich täuschen.

Um kurz vor zehn hatte ich meinen Posten bezogen. Mein Chef, ein leitender Angestellter eines Wachschutzunternehmens, hatte mir den Platz auf der Empore oder „Galerie“ zugeteilt, ein Dreiviertelgeschoss, das durch eine freiliegende Wendeltreppe mit dem Parterre verbunden ist. Trennwände teilten die Galerie in drei etwa gleich große Ausstellungsbereiche. Die Wände waren makellos weiß, helles Parkett lag auf dem Boden aus. An der nordöstlichen Längsseite der Etage war eine gläserne Balustrade angebracht. Von dort fiel mein Blick in die untere Ausstellungshalle, ein lichter, hoher Raum, an den Wänden hingen in großzügiger Anordnung Gemälde. Die Bilder zeigten vielfach grotesk vergrößerte Alltagsgegenstände, Tafelschokolade zum Beispiel, circa einen auf zwei Meter groß, ferner Handtücher am Haken, ein Triptychon mit Männern beim Auskleiden sowie eine Serie mit Meerschweinchendarstellungen, bonbonfarben, mit großen Pinselschwüngen auf die Leinwand gebracht.

Mein Chef überreichte mir ein Funkgerät, erklärte mir dessen Funktionsweise und gab mir ein paar Anweisungen die Sicherheit betreffend, dann ließ er mich allein. Es war inzwischen kurz vor elf.

Weil noch niemand meinen Bereich betreten hatte, inspizierte ich erst einmal die Bilder, die ich bewachen sollte. Auf meiner Galerie hingen Körperstudien und Stillleben. Die Zeichnungen gefielen mir. Als ich meine Runde gegangen war, nahm ich meinen Platz ein und wartete. Das tat ich eine Weile.

Ich stand also da und wartete. Und wie ich so dastand, da dachte ich, ach, nur so dastehen und warten und sonst nichts weiter tun, ist eine leichte Übung, man muss nur wissen, wie man sich die Zeit vertreibt. Wie ich in zahlreichen Museen beobachten konnte, ist eine verbreitete Variante des Zeitvertreibs, vor sich hin zu glotzen. Das tat ich nun meinerseits. Nun erwies sich das Glotzen recht bald als wenig unterhaltsam, und so ließ ich davon ab und inspizierte erst mal meine Fingernägel. Sie waren okay. Über diesen Befund recht zufrieden verschränkte ich die Hände auf dem Rücken. In dieser Haltung begann ich auf den Schuhsohlen zu wippen, vier, fünf Mal, dann ließ ich es. Ich glotzte wieder ein Weilchen, denn noch war von Besuchern nichts zu sehen oder zu hören. Ich reckte kurz den Hals, sah mich um. An der Bedrohungslage hatte sich nichts geändert. Gut, dachte ich. Alles im Griff. Ich legte die Hände vor dem Unterleib ineinander.

Eigentlich kein schlechter Job, dachte ich da. Wirst bezahlt fürs Dastehen. Super!

Plötzlich zwei Besucher. Risiko!

So stand ich also da. Und wartete. Du kannst gut warten, dachte ich. Worauf und auf wen du schon so alles gewartet hast, echt irre irgendwie. Nochmals horchte ich nach fernen Schritten. Allein das Knarzen meiner Schuhsohlen auf dem Parkett und das Surren der Deckenfluter war zu hören.

Die Deckenfluter: Wie viele es wohl sein mögen, dachte ich und zählte sie rasch mal durch. Ich kam auf 14. Aha, dachte ich, 14 Deckenfluter bescheinen dein Haupt, sieh an! Ich überprüfte mein Ergebnis und stellte zufrieden fest, dass ich richtig gezählt hatte. Fein, dachte ich. Ich begann nun, leise ein Liedchen zu pfeifen, als das Lied aus war, spielte ich eine Runde Daumen drehen (Lieber Gott, ich bin nicht dumm, denn ich kann’s auch andersrum) und sah noch ein wenig geradeaus. Dann dachte ich: Puh! Ich schielte auf die Uhr. Was selbstverständlich ein Fehler war. Keine zehn Minuten waren vergangen.

Nun hatte die Ausstellung ja ihren letzten Tag, und ich sagte mir, bleib mal locker, zahlreich wird kunstverrücktes Volk diese Gelegenheit nutzen, um das Werk des Malers noch zu sehen. Auch wenn das Wetter herrlich und heute Sonntag ist und alle, die du kennst, selbst die Kunstbeflissenen, von dem Maler noch nie gehört haben. Bald bricht hier die Hölle los, sagte ich mir, und die Zeit verfliegt im Nu.

Etwa zwei Minuten später sagte ich mir noch einmal dasselbe.

Als eine weitere Minute verstrichen war, verbot ich mir, auf die Uhr zu schauen. Ich knibbelte an meinen Fingernägeln, ließ davon ab und verlegte mich aufs Auf- und Abgehen.

Man kann das Auf- und Abgehen schon eine Zeitlang betreiben, aber ich empfehle es eigentlich nicht, denn bald wird einem die Hilflosigkeit dieses Tuns und folglich die eigene Lage bewusst. Was, verdammt noch mal, machst du jetzt?, dachte ich. Du guckst dir noch mal die Bilder an. – Ha! Genau!

Gedacht, getan. Ich streifte durch meine drei Räume, würdigte dieses Bild und jenes. Fünf Minuten später stand ich wieder auf meinem Platz. Umgeben von ganz guter Kunst, die aber erhaben schwieg. Noch immer war niemand zu sehen.

Ich stand, ich stierte, ich wartete. Dann der Gedanke: Wird das noch was heute? Kommt da noch wer? Hallo? Das unheimliche Gefühl, meine Gedanken würden wie ein Echo von den Wänden zurückgeworfen, bereitete mir Kopfzerbrechen.

Ich spürte gerade, wie mich ein erster Anflug von Verzweiflung streifte, da vernahm ich ein Geräusch. Es kam aus dem Erdgeschoss, und es klang nach dem Öffnen einer Tür. Natürlich eilte ich sofort zur Balustrade hin und lugte hinab. Ich hatte mich nicht getäuscht: Eben riss der Kollege am Eingang Eintrittskarten ab. Zwei ältere Herrschaften, die wuchtige Turnschuhe trugen, betraten die Ausstellungshalle. Ich brauste zurück auf meinen Posten. Sammle dich, sagte ich mir, jetzt geht’s los!

Die nächsten zweieinhalb Stunden waren – ich kürze hier ab – ein präzises Abbild der ersten drei: Die Besucher kamen spärlich, meist in kleinen Grüppchen zu dreien, vieren, als Paare, selten verteilten sich mehr als eine Handvoll auf alle Geschosse. Die meiste Zeit stand ich da, bisweilen ging ich auf und ab, dann stand ich wieder und stierte.

Die psychologischen Effekte der Monotonie fallen bekanntlich recht disparat aus. Manch einer gibt sich dem Immergleichen freudig hin, wirft alle irdischen Güter von sich, trampt nach Tibet, besteigt einen Berg und bezieht eine spartanische Kammer in einem Kloster, wo niemand mit niemandem spricht, um an den segensreichen Wirkungen der Monotonie seelisch beziehungsweise spirituell zu gesunden; andere sitzen in Einzelhaft und verlieren beim Anblick der Zellenwand den Verstand. Ich weiß nicht genau, wo jetzt die Arbeit des Museumswärters zu verorten ist, aber ich habe Hinweise gefunden, dass wenige den Job der Erleuchtung wegen ausüben; und der irre gewordene Museumswärter ist nach meinen Recherchen vermutlich auch keine Erfindung der Literatur. Einen ersten Hinweis lieferte die unverblümte Ansage eines erfahrenen Wärters: „Drei Wochen, und die Arbeit schlägt Ihnen aufs Gemüt.“ Man frage sich dann beispielshalber, ob das Bild, vor dem man seit Wochen steht, über Nacht umgearbeitet worden wäre. Zweitens: Ich habe von einer britischen Umfrage unter Museumswachleuten gelesen, nach der 21 Prozent der Befragten bisweilen versucht gewesen seien, ein Kunstwerk zu zertrümmern oder ein Porträt nachträglich mit einem Schnurrbart zu versehen. Ich selbst merkte vom Wahnsinn noch nichts, wenngleich mir das Surren der Deckenleuchten zunehmend lauter erschien, wie Grillen, dachte ich. Und ein Bild, das den Titel „Müll“ trug, aber überhaupt nicht nach Müll aussah, ging mir inzwischen gewaltig auf die Nerven.

Bitte recht misstrauisch

Ich versuchte, meinen Ingrimm mit Gedichten, die ich im Kopf rezitierte, zu besänftigen, und verfiel darüber in noch größeres Missvergnügen, weil ich Armleuchter im Unterricht nicht aufgepasst hatte und nur ein schönes Heinz-Erhardt-Gedicht kann: „Der Stier“. Ferner beherrsche ich eine verhohnepiepelnde Version von Schillers „Glocke“ (Loch in Erde/Eisen rinn/Glocke fertig/Bim, bim, bim); außerdem kann ich ein wenig nicht jugendfreie Scherzlyrik, die ich im Knabenalter auf dem Spielplatz von den Großen gelernt habe.

Das Müllbild glotzte, die Deckenstrahler brummten bedrohlich. Kurz bevor ich vermutlich verloren gewesen wäre, überkam mich errettend die Müdigkeit. Mit bleiernem Gewicht legte sie sich auf meine Schultern, sodass ich unter ihr erschlaffte und bald etwas schräg im Raum stand beziehungsweise baumelte, marionettenartig wankte, als hinge mein Kopf an einem Faden. Zwar rissen mich vereinzelt Besucher aus dem Dämmerzustand, doch nur anfänglich. Ihre Schritte klangen bald nur mehr dumpf und wie von weither. Pflichtbewusst rang ich mit der Schlafregung. Wachmann kommt von „wach sein“, betete ich mir vor und riss die Augen auf, doch meine Gesichtszüge machten nicht mit. Sie entspannten sich zunehmend, der Kopf wollte unbedingt nach vorne fallen und nach hinten klappen, er eierte auf meinen Hals, schaukelte wie ein Betrunkener, mal nach links, mal nach rechts. Dann riss ich ihn wieder hoch.

Gott sei Dank war mein Wille eisern geblieben, und ich schlief nicht ein. In aller Öffentlichkeit in Schlaf zu sinken, kann bekanntlich peinliche Folgen haben. Einmal bin ich im Regionalexpress nach München aus einem traumlosen Knock-out-Schlaf hochgeschreckt. Ich fand mich vornübergebeugt im Sitz hängend, mit lahmen Gliedern und erschlaffter Unterlippe, von der leider ein beachtlicher Speichelfaden hinabhing. Reflexartig schlürfte ich den Ausfluss hoch und warf mich in den Sitz zurück. Aus schlaftrüben Augen sah ich in das angewiderte Gesicht einer jungen Frau und in die schadenfrohen Gesichter einer Schülergruppe.

Natürlich sind solche Effekte den mit der Sicherheit Beauftragten bekannt, und um dem Irrsinn und der Ermattung vorzubeugen, wechselt das Wachpersonal in dem Museum, wo ich meinen Dienst tat, täglich den Raum. Ich durfte als untrainierter Berufseinsteiger in meiner letzten Arbeitsstunde (die härteste und zähste, wie man mir versicherte) den Standort wechseln und verrichtete meine Arbeit nun im Erdgeschoss am Eingang. Eine wirklich erfrischende Tätigkeit, nach fünfeinhalb Stunden auf einsamem Posten. Man öffnet den Besuchern die Tür, heißt sie mit einem sinistren Sicherheitsmannbrummbass willkommen, reißt Karten ab, wobei man recht misstrauisch und prüfend guckt, wünscht schließlich mit der Andeutung eines Lächelns viel Vergnügen (außerdem wurde ich Ohrenzeuge aufschlussreicher Ausführungen über die Kunst, zum Beispiel lernte ich, dass die Darstellung des Kotzenden, wie sie unser Künstler auf Papier gebracht hatte, ein Novum in der Malereigeschichte ist). Und so vergingen die letzten 60 Minuten meines Daseins als Museumswärter doch noch erfreulich rasch. Geschafft war ich trotzdem.

Gegen zehn nach acht nahm ich die Autobahnausfahrt. Die Sonne lugte noch über einem Feldhügel hervor, warf hundertmeterlange Schatten. Sachte bremste ich den Wagen herunter und glitt im Feierabendtempo eine Landstraße entlang. Nach zehn Minuten erreichte ich mein Ziel. Ich saß noch eine Stunde mit einem Bier auf dem Balkon. Die Nacht war klar und warm. Die Grillen zirpten wie die Deckenfluter.

Mehr Reportagen aus der Arbeitswelt finden sich in Tobias Kurfers Buch Horrorjobs: Wie ich mich probehalber ausbeuten ließ, Fischer Verlag 2012, 206 S.

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