Bourdieu und die Wege der Ungleichheit

Distinktion Kaum ein Soziologe hat so einen großen Einfluss auf sein Fach gehabt, wie Pierre Bourdieu. Seine Ansätze prägen das Denken über soziale Ungleichheit bis heute

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Nicht nur das ökonomische Kapital definiert unseren sozialen Raum
Nicht nur das ökonomische Kapital definiert unseren sozialen Raum

Foto: Spencer Platt/Getty Images

Pierre Bourdieu war ein französischer Soziologe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. War sein Vater noch Mitglied der Arbeiterklasse, so steig Bourdieu sozial bis auf einen Lehrstuhl am Collège de France auf. Bourdieus Gedanken gelten heute als klassisch für die Soziologie. Wie funktioniert der soziale Raum? Wie erhält sich die soziale Ungleichheit? Mit diesen und anderen grundsätzlichen Fragen der Sozialwissenschaften hat er sich beschäftigt.

In seinen Arbeiten hat er unter Anderem an Marx angeknüpft, diesen aber auch kritisiert. Wer nun im Jahr des 200. Geburtstages von Marx sich mit marxschen Gedanken beschäftigen möchte, aber es etwas aktueller und stärker an der modernen Wissenschaft Soziologie orientiert mag ist bei Bourdieu gut aufgehoben.

Doxa und Habitus

Eine der Grundfragen von Bourdieu beschäftigt sich mit dem Phänomen, welches er als Doxa bezeichnet. Das Verhalten im sozialen Raum wird häufig naturalisiert, was dazu führt, dass ein erstaunlich geringes Maß an Nonkonformismus vorliegt. Um dies zu verstehen muss man sich nur anschauen, wie natürlich es auf uns wirkt in der Öffentlichkeit Kleidung zu tragen oder den Tag in Stunden einzuteilen. Die Handlungen wirken im sozialen Raum, als wären sie aufeinander abgestimmt. Es gibt Grundsätze im Zusammenleben, die nicht tagtäglich neu verhandelt werden müssen. Bourdieu fragte sich wie es eigentlich dazu kommt.

Als Habitus bezeichnet Bourdieu die Tatsache, dass die Menschen durch ihre soziale Umwelt geprägt werden. Bourdieu sieht im Subjekt eine aktiv handelnde Einheit, die jedoch sozial strukturiert ist. Der Habitus steht zwischen der sozialen Struktur und dem handelnden einzelnen Menschen. Menschen, die eine soziale Herkunft teilen, teilen Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster. Dies geschieht durch eine typische Art der Erziehung und dem Teilen von Erfahrungen, die man in bestimmten sozialen Positionen typischerweise macht.

Der Habitus ist nicht nur ein Phänomen, das dazu führt, dass sich Interessen und Geschmack abhängig von der Klasse, der man entstammt unterscheiden, sondern spielt auch im Prozess der Herstellung von sozialer Ungleichheit eine große Rolle. Die Unterschiedlichkeit in den Interessen, ist nicht zufällig, sondern hat ihren Ursprung in der eigenen Position im Sozialem, und sorgt dafür, dass (wie es Eribon nannte) sich die unteren Klassen auch selber frühzeitig aus dem Bildungssystem eliminieren. In Prüfungen, Vorstellungsgesprächen und so weiter wird nicht nur die Kompetenz einer Person bewertet, sondern auch ihr Auftreten. Wer „die richtigen Manieren“ bereits zuhause gelernt hat, wem sie dadurch in Fleisch und Blut übergegangen sind, der hat hier einen Vorteil.

Der Habitus ist nicht statisch, sondern in einem stetem Wandel. Befindet man sich in neuen sozialen Kontexten, so verändert er sich. Gewisse Elemente bleiben dennoch langfristig bestehen. Dies ist laut Bourdieu der Grund, warum sich Aufsteiger immer fremd in der neuen Schicht fühlen werden.

Die drei Sorten des Kapitals

Bourdieu definiert Kapital analog zu Marx als tote Arbeit, also als akkumulierte Arbeit, die in der Vergangenheit statt gefunden hat. Marx spricht in diesem Kontext von Ausbeutung, wenn die Kapitalbildung durch die Arbeit anderer Menschen erfolgt. Bourdieu erweitert den Kapitalbegriff von Marx und gliedert ihn in ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital auf.

Das ökonomische Kapital wird in Form des Eigentumsrechts institutionalisiert. Durch das Erbrecht wird es über Generationen hinweg weitergegeben. Ökonomisches Kapital sind Geldmengen und andere Vermögensformen.

Kenntnisse, Wissen, Bildung und der Gleichen sortiert Bourdieu in die Kategorie des kulturellen Kapitals ein. Das kulturelle Kapital unterscheidet Bourdieu in inkorporiertes, objektiviertes und institutionalisiertes. Als inkorporiert gilt kulturelles Kapital, wenn es in den Menschen übergegangen ist. Es geht hierbei auch darum Wissen, Umgangsformen und so weiter zu erlernen, die dann Teil des eigenen Habitus werden. Es kann nicht direkt über die Generationen hinweg weiter gegeben werden, da die Aneignung durch einen Selbst erfolgen muss. Nur indirekt über Erziehung ist eine Weitergabe möglich. Objektiviertes kulturelles Kapital kann von den Sorten des kulturellen Kapitals am einfachsten und direktesten in ökonomisches Kapital umgewandelt werden. Es handelt sich hierbei um Kulturgüter, wie Bücher, Gemälde, Skulpturen etc. Diese können zum Beispiel auf dem Kunstmarkt verkauft werden. Institutionalisiertes Kulturkapital ist vor allem in Form von Bildungsabschlüssen zu finden. Am Ende eines Bildungsweges erhält man ein staatlich legitimiertes Zertifikat, welches ermächtigt bestimmte gesellschaftliche Plätze zu bekleiden.

Als soziales Kapital bezeichnet Bourdieu das Produkt von Beziehungsarbeit. Er spricht dabei von einem hohen sozialen Kapital, wenn man über ein großes Netzwerk verfügt, welches dazu genutzt werden kann das eigene ökonomische Kapital zu erhöhen. Die Vermittlung in gute Berufsposition über Bekanntschaften ist ein gutes Beispiel dafür. Das gegenseitige Schulden von Gefälligkeiten gilt als ein Grundmuster. Eltern können ihre Netzwerke für ihre Kinder nutzbar machen und damit die vorhandene Ungleichheit verfestigen.

Soziale Ungleichheit nicht nur ökonomisch

Den Kapitalsorten, die eher indirekt auf das ökonomische Kapital bezogen sind und noch einer Umwandlung bedürfen unterstellt Bourdieu einen Verschleierungsvorgang. Es wird ein Ideal vorgeschoben, wobei es eigentlich nur um das Erlangen ökonomischer Vorteile geht. Im Falle des Bildungssystems könnte man behaupten es ginge um ein Bildungsideal zum Beispiel im Sinne von Humboldt, wobei es eigentlich, so Bourdieu, darum geht eine gute Position im Ungleichheitsgefüge zu erlangen. Verschleiert wird, um die Produktion ungleicher Lebensverhältnise ideologisch zu begründen und zu legitimieren. Auch im Bereich des sozialen Kapitals wird verschleiert. Würde man offensichtlich nur auf den eigenen ökonomischen Vorteil bezogen sein, so würde ein Netzwerk sehr fragil werden.

Die Kapitalsorten lassen sich ineinander umwandeln. Ökonomisches kann in kulturelles umgewandelt werden, wenn Bücher erworben werden oder Geld in einen Bildungsweg gesteckt wird. Schenken kann dazu dienen später einen Gegenleistung zu erhalten, wie zum Beispiel Hilfe beim beruflichen Aufstieg. So kann durch ökonomisches das soziale Kapital erhöht werden, was sich wiederum zu einem späteren Zeitpunkt auszahlt. Hierbei kann man analog zu Newtons Energieerhaltungssatz davon sprechen, dass die Kapitalsorten ineinander umgewandelt werden, nicht aber verloren gehen.

Soziale Ungleichheit bildet sich nicht nur durch das ökonomische Kapital, sondern auch durch die anderen beiden Sorten. Wem Ungleichheit als politisches Problem erscheint, sollte sich nicht nur auf ihre ökonomische Seite konzentrieren. Bei den Kapitalsorten hat Bourdieu noch eine interessante Beobachtung gemacht. In einem Feld gibt es nicht nur Kämpfe um Positionen und die internen Spielregeln, sondern auch darum, welche Kapitalsorte die entscheidende in diesem spezifischem Feld ist.

Weiter finden auch Konflikte darum statt, welchen Wechselkurs die Sorten untereinander haben und wie Transformationen ablaufen sollten. Nachhilfestunden zu kaufen ist legitim, aber Doktorarbeiten in Auftrag zu geben nicht. In beiden Fällen wird ökonomisches Kapital in kulturelles umgewandelt. Der Unterschied liegt in der Form der Umwandlung.

Bourdieus Werk ist umfangreich und komplex, aber sehr lohnend, wenn man sich für Fragestellungen, die den sozialen Raum berühren interessiert. Ein guter EInstiegist zum Beispiel Eva Barlösius: „Pierre Bourdieu“ erschienen im Campus-Verlag im Jahr 2006. Auch finden sich zahlreiche Dokumentationen im Internet. Podcasthörerinnen und Hörern sei auch der Soziopod von Herrn Breitenbach und Doktor Köbel empfohlen. Bourdieu ist aber ein Wissenschaftler, den man im Original gut lesen kann und sollte. Es gibt bei ihm viel zu lernen.

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