Von Reformen und Ausgrenzungsrhetorik

Einbürgerung Die Konsequenzen einer auf körperlich-sichtbare Merkmale ausgerichteten Idee von Gemeinschaft

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Der deutsche Pass: Wer kriegt ihn, wer kriegt ihn nicht? Und wie unterscheidet man sich in der Beantwortung dieser Frage von Frankreich
Der deutsche Pass: Wer kriegt ihn, wer kriegt ihn nicht? Und wie unterscheidet man sich in der Beantwortung dieser Frage von Frankreich

Foto: John Macdougall/AFP/Getty Images

Historisch erfolgen in Deutschland Einbürgerungen nach dem Prinzip des jus sangius, also nach dem Abstammungsprinzip. Hierbei wird die Staatsangehörigkeit nicht an alle Menschen aktiv vergeben, die auf dem Territorium des deutschen Staates leben, sondern wird im Regelfall über den Status der Eltern vermittelt. Über die historische Entwicklung habe ich an dieser Stelle geschrieben. Im folgenden Text soll nun untersucht werden, wie sich der Sachverhalt entwickelt hat.

Zum ersten Januar des Jahres 2000 trat in Deutschland ein neues Einbürgerungsgesetz unter der Koalition von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen in Kraft. Mit dieser Reform wurde unter anderem die doppelte Staatsbürgerschaft eingeführt. Weiter wurde das bisherige Abstammungsprinzip aufgeweicht und mit Elementen des Territorialprinzips versetzt. Nun erhalten in Deutschland geborene Kinder die deutsche Staatsbürgerschaft unabhängig von der ihrer Eltern, so fern einige Faktoren gegeben sind. Vor allem muss mindestens Vater oder Mutter des Kindes acht Jahre rechtmäßig in Deutschland gelebt haben. Ist der Status der Eltern also der eines relativ dauerhaften Aufenthaltes in Deutschland und ist dieser rechtlich abgesichert, so wird automatisch durch den Staat per Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen. Das ist neu in Deutschland. Brubaker beschreibt in dem von mir an anderer Stelle beschriebenen Aufsatz noch ein reines nach dem Geburtsprinzip funktionierendes Staatsbürgerschaftskonzept.

Nicht nur für Kinder deren Eltern nach Deutschland eingewandert sind werden Elemente des Territorialprinzips eingeführt, sondern auch für Menschen, die dauerhaft nach Deutschland migriert sind. Bis 1999 war es noch notwendig 15 Jahre lang in Deutschland zu leben bevor man einen Antrag auf Einbürgerung stellen konnte. Diese Frist wurde 2000 um fast die Hälfte auf acht Jahre reduziert. Die Hürden für eine Einbürgerung wurden zwar herabgesetzt, dennoch muss diese beantragt werden und wird nicht auf Initiative des Staates vergeben. Weitere Faktoren sind vor allem die Kenntnis der deutschen Sprache, aber auch ein Bekenntnis zur deutschen Verfassung, sowie ökonomische Selbstständigkeit und keine Straffälligkeit.

Der zweite wichtige Punkt des Gesetzes ist der der Optionspflicht. Dem zu folge muss im Regelfall nach der Volljährigkeit eine Entscheidung zwischen den Staatsbürgerschaften getroffen werden. Verwirft man die des Herkunftslandes der Eltern, so kann man die deutsche behalten und umgekehrt. Brubaker unterscheidet bei der Trennung zwischen Territorial- und Abstammungsprinzip auch den Faktor, ob die Einbürgerung automatisch durch den Staat geschieht oder beantragt werden muss. Ersteres ist typisch für das Territorial- zweites für das Abstammungsprinzip. Der Antrag auf Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft muss aktiv gestellt werden. Der Nachweis über ein Ablegen der Staatsbürgerschaft der Eltern muss aktiv eingereicht werden, da sonst die deutsche Staatsbürgerschaft erlischt. Dies deutet eher auf eine gewisse Kontinuität in der deutschen Gesetzgebung hin, da der automatische Ablauf ohne Eingriff zum Verlust und nicht zum endgültigen Erhalt der Staatsbürgerschaft führt.

Die Einbürgerungsquote lag 1990 bei 1,82 %. Das Jahr 2000 hingegen verzeichnet eine Quote von 2,55 %. Es scheint als hätte das neue Einbürgerungsgesetz zwar zu einer höheren Frequentierung der Einbürgerung geführt, jedoch scheint dies kein langfristiger Effekt gewesen zu sein. Schließlich sinken die Zahlen bis zum Jahr 2010 auf 1,37 %.

Die Zahlen nach 2010 sind nur noch schwer mit den vorherigen vergleichbar, da hier die Datenbasis durch den Zensus 2011 verändert wurde. Aber auch hier im Zeitraum von 2011 bis 2016 ist ein Absinken zu erkennen.

Das Absinken der Einbürgerungsquote spricht dagegen, dass das Einbürgerungsgesetz von 2000 als ein zentraler Bruch zu sehen ist. Es drängt sich die Frage auf, warum so wenig Migranten ihre Einbürgerung beantragen.

Die Einbürgerung muss in Deutschland nach der Gesetzesänderung von 2000 immer noch aktiv beantragt werden. Wichtig ist erneut, dass man die Staatsbürgerschaft nicht nur als einen juristischen Status ansehen sollte bei dem Vor- und Nachteile abgewägt werden, sondern als Ausdruck der Teilnahme an einer Gemeinschaft. Man könnte die These aufwerfen (die noch separat zu prüfen wäre), dass selbst dauerhaft in Deutschland lebende Migranten sich nicht als Deutsche fühlen. Welchen Kriterien sehen sich Migranten gegenüber, bevor sie als deutsch anerkannt werden?

Jörg Meuthen ist Bundessprecher der „Alternative für Deutschland“ und sitzt für diese Partei im Europaparlament. Vor seiner politischen Laufbahn war er akademisch tätig und nach eigenen Angaben politisch nicht aktiv. Aufgrund seiner Postion kann er als eine relativ repräsentative Stimme der Partei wahrgenommen werden.

Die von mir im Folgenden analysierte Rede wurde von ihm auf dem Parteitag der AfD am 22. April 2017 in Köln gehalten. Meuthen spricht hier über parteiinternen Zusammenhalt, den kommenden Bundestagswahlkampf, sein Bild von der Partei und der Motivation ihrer Mitglieder, sowie sein Bild und seine Konstruktion des „Deutsch-Seins“.

"Ich habe das, ich gebe es zu, lange Zeit gar nicht gesehen. Gerade in jüngster Zeit aber gehe ich aber sehr bewusst durch die Straßen meines Landes, meiner Stadt. Und wenn ich an einem Samstagmittag im Zentrum meiner Stadt unterwegs bin, mit offenen Augen, wissen Sie, was ich dann sehe? Ich sage das wirklich ohne jede Übertreibung: Ich sehe noch vereinzelt Deutsche. Und wenn ich darüber erschrecke, nicht aus irgendeiner Ausländerfeindlichkeit, die mir völlig fremd ist, sondern weil dieses ungeheure Maß an wie auch immer in unser Land gekommenen Migranten, offensichtlich mehrheitlich aus anderen Kulturkreisen stammend, mein Land zwangsläufig und unwiderruflich in ein ganz anderes verwandelt, das kaum mehr etwas mit dem Land zu tun hat, in dem ich groß geworden bin[...]"

„Nur noch vereinzelt Deutsche“? Interessanter als die Frage, ob er hier empirisch richtig oder falsch liegt ist, was er dabei nicht sagt. Meuthen sagt zwar nicht, dass für ihn in diesem Moment „Deutsch-Sein“ etwas optisch erkennbares und damit sichtbares geworden ist, aber er muss es implizit annehmen.

Der Aspekt der Sichtbarkeit ist ein zentralen Punkt. Meuthen konstruiert die Teilnahme an der nationalen Gemeinschaft Deutschlands jenseits der Staatsbürgerschaft. Kurz gesagt: Die Ethnie kann gesehen werden, während dies bei der Staatsbürgerschaft unmöglich ist. Mit der Konstruktion über die Sichtbarkeit artikuliert Meuthen ein biologistisches Bild von Gemeinschaft.

"Wir wollen nicht zur Minderheit im eigenen Land werden, und sind es doch zu Teilen bereits. Und dass die eindeutige Mehrheit etwa der hier lebenden Türken (nicht etwa alle, nein keineswegs) keine Freunde der freiheitlichen Gesellschaft sind, deren Privilegien sie gleichwohl nur zu gerne für sich in Anspruch nehmen, das haben wir spätestens seit dem vergangenen Sonntag sogar schriftlich: Zwei Drittel der hier lebenden Türken mit Wahlberechtigung haben bei dem türkischen Verfassungsreferendum mit Ja gestimmt. Gehen wir davon aus, dass wohl alle Aleviten und Kurden unter ihnen ganz sicher mit Nein gestimmt haben dürften, sind es sogar deutlich über 80 %. "

Meuthen spricht hier von den Türken mit Wahlberechtigung. Da stellt sich die Frage welche „Türken“ wahlberechtigt waren und welche nicht. Für das Referendum waren auch im Ausland lebende Menschen mit der türkischen Staatsbürgerschaft aufgerufen, also auch jene mit einer doppelten Staatsbürgerschaft. Abgesehen davon, dass nicht „Zwei Drittel […] mit Wahlberechtigung“ dem zugestimmt haben, sondern knapp zwei Drittel, derjenigen, die gewählt haben, was wiederum nur etwa 50% der Wahlberechtigten waren. Der größte Anteil der Türken, die Meuthen als nicht wahlberechtigt sieht, müssen wohl Menschen ohne türkische Staatsbürgerschaft sein. Wie konstruiert Meuthen hier das Türkisch-Sein? Auch darauf geht er nicht explizit ein, jedoch kann aus den vorangestellten Prämissen gefolgert werden, dass es nicht alleine die Staatsbürgerschaft sein kann, denn sonst wären nicht wahlberechtigte Türken wohl häufig gar keine Türken.

"Es steht nicht weniger auf dem Spiel als unsere freiheitliche Gesellschaft. Wenn wir den Hebel nicht jetzt und sehr entschlossen umlegen, dann ist die unwiderrufliche Veränderung unserer Heimat in ein in gar nicht vielen Jahren muslimisch geprägtes Land eine mathematische Gewissheit. "

Dieser Gedanke von Meuthen muss in den Gesamtkontext der Rede eingeordnet werden. Er konstruiert die Gefahr einer demografischen Verschiebung. Er unterstellt der aktuellen Situation eine solche Lage. Durch diesen Zustand soll eine „freiheitliche Gesellschaft“ bedroht sein.

Zeigt sich hier nicht ein Nationalismus, der Deutschland als ein politisches Projekt ansieht? Artikuliert sich hier eine Abwendung vom ethnokulturellen Verständnis hin zu einem politischen Verständnis nationaler Gemeinschaft? Das Gegenteil ist der Fall. Meuthen beschreibt die Situation umgekehrt. Zuerst kommt die ethnokulturelle Homogenität und dann das politische Projekt. Brubaker meinte, dass in Frankreich kulturelle Homogenität als Ausdruck der politischen Gemeinschaft gesehen wird. Man könnte hier folgern, dass Meuthen dieses Bild umdreht und das Projekt einer „freiheitliche[n] Gesellschaft“ als Ausdruck der kulturellen Homogenität ansieht. Das scheinbare Aufbrechen dieser Homogenität gefährdet dann das politische Projekt, so Meuthen.

"Dieses Land Deutschland ist unser Land. Es ist das Land unserer Großeltern und Eltern, und es ist unsere Bürgerpflicht, es auch noch das Land unserer Kinder und Enkel sein zu lassen. Dazu müssen wir es uns inzwischen schon zurückerobern."

Deutscher ist hier, wer eine deutsche familiäre Kontinuität aufweist. Das Ideal des Abstammungsprinzips wird hier beschrieben. Das Verhältnis zum Land wird vererbt. Deutscher ist, dessen Eltern in Deutschland bereits gelebt haben. Neben dieser Projektion des eigenen Deutsch-Seins geht Meuthen einen Schritt weiter und projiziert sie ebenfalls in die Zukunft. Die Verbindung zum Land erfolgt über die Familie.

Sichtbarkeit und familiäre Kontinuität sind für Meuthen zentrale Konzepte wenn es darum geht wer Deutscher ist. Bei Optik und Elternhaus hört jedoch die Gestaltungskraft des Einzelnen auf. Vor diesem Hintergrund wird eine Integration um so schwieriger je weiter diese Sicht verbreitet ist. Migranten könnten solche an sie angelegten Standards beobachten und sich an ihnen scheitern sehen und deshalb die Staatsangehörigkeit nicht versuchen anzustreben. Die niedrige Einbürgerungsquote auch nach der Gesetzesreform von 2000 spricht dafür, dass noch etwas anderes der Einbürgerung hemmend im Weg steht, als nur der Gesetzesrahmen.

Circa 10.000 Menschen haben an Gegendemonstrationen im Zuge des AfD-Parteitages 2017 in Köln teilgenommen. Und damit gegen die Partei und die von ihr artikulierten Sichtweisen protestiert. Von genau diesem Parteitag stammt die von mir analysierte Rede in der Meuthen seine Vorstellung davon, was es bedeutet deutsch zu sein, vorbringt. Man kann sagen, dass nicht mehr nur eine Debatte darüber geführt wird, was einen Zusammenhalt hervorbringt. Viel mehr ist das Thema selbst ein Konfliktgegenstand, was im ersten Moment paradox erscheinen mag.

Der Philosophie und der Sozialwissenschaft stellt sich die Frage, ob menschliches Verhalten determiniert oder durch den freien Willen gestaltbar ist. Brubaker geht in seinem Text, in dem er einen Bogen vom 19. bis ins späte 20. Jahrhundert spannt, von der These der Pfadabhängigkeit aus. Es liegt nicht nur am mangelnden Gestaltungswillen in Deutschland, dass ein bestimmtes Modell von Staatsbürgerschaft vorlag und eine hohe Kontinuität aufweist, sondern an historischen Umständen die bei der Gründung des deutschen Nationalstaates vorlagen. Jedes Abweichen von diesem Pfad ist auch in der Frage interessant, wie viel politische Gestaltungskraft tatsächlich vorhanden ist und wie viel bereits fest gesetzt ist. Auch kann immer in solchen Situationen untersucht werden unter welchen Umständen es zu Abweichungen auf den Pfaden kommt. Hier kann man die These, dass dafür externe Schocks nötig sind, überprüfen.

Quellen:

„Staat & Gesellschaft - Migration & Integration - Ausländische Bevölkerung, Einbürgerungen und Einbürgerungsquote - Statistisches Bundesamt (Destatis)“. Zugegriffen 10. Februar 2018. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/MigrationIntegration/EingebuergertePersonen/Tabellen/EinbuergerungenEinbuergerungsquoteLR.html

Bundeszentrale für politische Bildung „Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und das neue Einbürgerungsrecht | bpb“. Zugegriffen 4. Februar 2018. http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/56483/einbuergerung?p=all.

Epochtimes „Klartext: Rede von AfD-Parteisprecher Jörg Meuthen in schriftlicher Form + Video“. Zugegriffen 2. Februar 2018. http://www.epochtimes.de/politik/deutschland/klartext-rede-von-afd-parteisprecher-joerg-meuthen-in-schriftlicher-form-video-a2101830.html.

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