Ausweg Restauration

Niederlande Ein halbes Jahr ergebnisloser Koalitionsgespräche liegt hinter dem Nachbarland, es gibt immer noch keine neue Regierung. Folgt jetzt eine Notlösung?
Ausgabe 41/2021
Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte (r.) und die ehemalige niederländische Außenministerin Sigrid Kaag
Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte (r.) und die ehemalige niederländische Außenministerin Sigrid Kaag

Foto: ANP/IMAGO

Stellen wir uns vor: Anfang 2022, nach gescheiterten Jamaika- und Ampel-Optionen, beschließen Unionsparteien und SPD, über eine Neuauflage der Großen Koalition zu verhandeln. Alles lieber als die bei Neuwahlen drohenden Verluste, so die Devise. Dieser Logik folgen derzeit die beteiligten Parteien der letzten niederländischen Regierung: Knapp sieben Monate nach der Parlamentswahl beginnen nun Gespräche zwischen der marktliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), den progressiv-liberalen Democraten 66 (D66), dem Christen-Democratisch Appèl (CDA) und der calvinistischen ChristenUnie (CU).

Mark Rutte (VVD), wohl auch künftig der Premier und in dieser Woche elf Jahre im Amt, gibt sich nach einem ersten Treffen zuversichtlich, alle Beteiligten wollten zu einer Lösung kommen. Eine Floskel, die zugleich davon zeugt, wie verfahren die Situation in Den Haag ist. Monatelang scheiterte eine Verhandlungsrunde nach der nächsten, wobei eine Sechs-Parteien-Allianz (die alte Regierung plus Sozialdemokraten und GroenLinks) ebenso verworfen wurde wie ein Minderheitskabinett aus VVD, D66 und CDA. Zudem war dies alles von Skandalen und Affären flankiert, die nicht nur das Ausmaß der politischen Krise in den Niederlanden zeigen, sondern auch die schwer angeschlagene Reputation ihrer Protagonisten. Begonnen hat das Ganze schon im Januar, als das letzte Kabinett Rutte wegen der sogenannten Kindergeld-Affäre (der Freitag 03/2021) zurücktrat. Es ging um gut 26.000 Eltern, die als potenzielle Sozialbetrüger behandelt worden und wegen exorbitanter Zahlungsauflagen vom Ruin bedroht waren.

Allen voran Rutte beteuerte sein Bedauern und verkündete vollmundig einen neuen, bürgernahen Stil. Dass seine Partei die Wahlen vom 15. bis 17. März gewann, lässt sich mit der Pandemie erklären, in der Regierungswechsel riskant erscheinen, mit einer stabilen Rutte-Basis unter Gutverdienenden sowie mit dem landestypischen Phänomen, in unsicheren Zeiten auf eine austeritätsfixierte Partei zu setzen. Dabei gab es mit Sigrid Kaag (D66), bis dato Ministerin für Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, durchaus eine Alternative. Unter dem Motto „Neue Führerschaft“ wollte sie dem Wunsch nach einem tiefen politischen Wandel gerecht werden, anders als Rutte nahm man ihr dies auch ab. Angeschlagen sind inzwischen beide: der Premier, nun ein Dreivierteljahr kommissarisch im Amt, überstand ein Misstrauensvotum im April nur knapp. Er hatte abgestritten, dass man in der ersten Runde der Koalitionssondierungen über den kritischen CDA-Abgeordneten Pieter Omtzigt gesprochen habe, der bei der Kindergeld-Affäre eine entscheidende Rolle spielte. Geleakte Dokumente belegten derweil, dass Omtzigt mittels eines hohen Postens weggelobt werden sollte. Sigrid Kaag ihrerseits trat im September von ihrem neuen Amt als Außenministerin zurück. Das Parlament sprach ihr das Misstrauen aus, da das Außenressort bei den Evakuierungen aus Afghanistan versagt habe.

Nachgeben müssen alle

Dass man in Den Haag nun auf Restauration setzt, als letzten Ausweg vor allseits gefürchteten Neuwahlen, heißt auch, dass Schlüsselfiguren frühere Positionen revidieren. Bei Sigrid Kaag betrifft das ihre Aversion gegenüber der konservativen ChristenUnie, das noch im August geäußerte Bekenntnis, ein Umschwung verlange ein anderes Kabinett, und nicht zuletzt ihren Anspruch auf politische Erneuerung. Die Partei ChristenUnie verabschiedet sich von der Ankündigung, nicht länger mit Rutte zu kooperieren.

Unterdessen stehen die Niederlande vor einer Reihe überaus dringlicher Probleme. Allen voran eine massive Wohnungsnot, gegen die derzeit eine Protestbewegung entsteht. Von der sich vertiefenden sozialen Kluft zeugt die im September bekannt gegebene Zahl von 220.000 arbeitenden Armen. Die Kokain-Mafia setzt ihre Killer inzwischen auf Anwälte, Journalisten und aktuellen Berichten zufolge selbst auf den Premier an. Mit welchem Elan eine Neuauflage des ausgelaugten Mitte-rechts-Kabinetts dies alles angehen will, wird sich zeigen. Fest steht nur, dass es Ende Oktober den Rekord der längsten Koalitionsverhandlungen des Landes brechen wird.

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