Brüssel gegen Brüssel

Belgien Zwei Regionen haben den CETA-Vertrag blockiert. Das hatte Gründe und mit politischer Irrationalität nicht das Geringste zu tun
Ausgabe 44/2016
Der Claus Weselsky der Wallonie: Paul Magnette
Der Claus Weselsky der Wallonie: Paul Magnette

Foto: Emmanuel Dunand/AFP/Getty Images

In der vergangenen Woche ist Europa ein ganzes Stück belgischer geworden. Was nun landauf, landab als mögliche „Rettung“ des erst einmal unterzeichneten Freihandelsabkommens CETA begrüßt wird, ist im Kern ein Kompromiss, wie er für das komplexe Königreich charakteristisch ist: Der Vertrag konnte ohne Korrekturen unterschrieben werden, findet sich aber durch ein Dokument ergänzt, das die Bedenken gegenüber Schiedsgerichten oder genetisch manipulierten Agrarprodukten vermerkt, die die Regionalregierungen in Brüssel und Wallonien bisher Nein sagen ließen. „Ins Gefrierfach stecken“, nennt man dieses Ausklammern essenzieller Kontroversen in Belgien.

Kurz zuvor hatte sich Paul Magnette, der wallonische Premier, noch einmal so präsentiert, wie man ihn nun in ganz Europa kennt: Vor einem Treffen mit den übrigen belgischen Teilregierungen erklärte er, kein weiteres Ultimatum hinnehmen zu wollen. Andernfalls würde man sich aus den Verhandlungen zurückziehen.

Die Androhung schien das plakative Stereotyp medialer Reflexionen zu bedienen: Wallonien, ohnehin übel beleumundet als rückständige Brache der Schwerindustrie und peinliches Armenhaus, wird als CETA-Totengräber denunziert, sein erster politischer Repräsentant als verbohrter Wirtschaftsfeind. Die Rolle des Watschenmannes füllt Magnette damit so gut aus wie jüngst in Deutschland GDL-Chef Claus Weselsky während der Lokführer-Streiks. Für Freihandelsgegner dagegen avancierte Magnette, bis vor kurzem außerhalb Belgiens kaum bekannt, jäh zur Ikone.

Saboteur oder Lichtgestalt – mit beiden Wahrnehmungen wird übertrieben. Zunächst steht Wallonien bei den CETA-Kontroversen in Belgien nicht allein – die Hauptstadtregion Brüssel sekundiert. Deren Regierungschef Rudi Vervoort ist Magnettes Partner und Genosse in der Parti Socialiste. Den Namen schon mal gehört? Voilà. Dabei war es Vervoort, der bereits Anfang Oktober ankündigte, seine Regionalexekutive könne dem Abkommen erst zustimmen, wenn die Regionallegislative einen veränderten Vertragsentwurf für CETA angenommen habe. Was zu der bemerkenswerten Konstellation – Brüssel gegen Brüssel – führte.

Last-Minute-Legende

Bevor man der auf den Grund geht, ist eine weitere Präzisierung angebracht. Aus beiden Regionen kam seit mehr als einem Jahr Kritik am eurokanadischen Abkommen. Es waren keineswegs ein paar Kamikaze-Politiker der Parti Socialiste, die aus einer Laune heraus dem Rest der EU vors wirtschaftsliberale Schienbein traten. Der kolportierte Eindruck des Last-Minute-Protests kam dadurch zustande, dass Parlamente, auch regionale, üblicherweise zeitnah über zu implementierende Verträge abstimmen.

Was dabei reklamiert wurde, ist aus vielen EU-Staaten bekannt: Es geht um Sozial- und Umweltstandards, die Konkurrenz durch billigere Agrarprodukte sowie die Position von Regierungen, die von Unternehmen wegen Verlusten verklagt werden können. So pocht Magnette weiter darauf, eine öffentliche Justiz solle statt privater Schiedsgerichte für Streit zwischen Unternehmen und Staaten zuständig sein. Das Centre Démocrate Humaniste (CDH), Juniorpartner in der wallonischen Regierung, sorgt sich zudem um den Erhalt staatlicher Regulierungsoptionen.

Dass nun ausgerechnet jenes Land, das so viele EU-Institute beherbergt, zum größten Hindernis des CETA-Vertrags wurde, hatte trotzdem nicht primär inhaltliche Gründe. Entscheidend war das hochkomplexe Gefüge des belgischen Föderalismus. Dass die drei Teilregionen Wallonien, Brüssel und Flandern über CETA mitentscheiden, basiert auf einem Prozess, der als „Staatsreform“ seit einem halben Jahrhundert den Zustand des Landes prägt. In bislang sechs Runden wurden den Regionen immer mehr Kompetenzen zugestanden – auch für den Außenhandel.

Die Existenz der Brüsseler Region als zweisprachiger Puffer zwischen beiden Sprachgruppen geht gleichfalls auf die Staatsreform zurück, ebenso wie die latenten Regierungskrisen seit einem Jahrzehnt. Dass permanent regionalisiert wird, ist eine flämische Forderung, die im frankofonen Wallonien wie in Brüssel mehr oder weniger klar abgelehnt wird. Folglich mutet es wie eine Ironie jüngster Geschichte an, wenn just die beiden Entitäten von Befugnissen Gebrauch machen, über die sie dank flämischer Begehrlichkeiten verfügen. Es ist paradox, wenn sich flämische Politiker über die CETA-Dissidenten echauffieren. Aus ihrer Region kommen nun einmal mehr als vier Fünftel der belgischen Ausfuhren, so dass positive CETA-Voten nicht schwerfallen. Das niederländischsprachige Flandern ist wirtschaftsliberal und katholisch-konservativ geprägt, dazu nationalistisch bis auf die Knochen. Im Unterschied dazu lässt sich in Wallonien die Philosophie der Parti Socialiste mit ihrem Bekenntnis zu staatlicher Regulierung kaum erschüttern. Freilich lehnte bislang der Koalitionspartner CDH ebenfalls CETA entschieden ab.

Konkurrenz von links

Dass die Regionen Brüssel und Wallonien, die beide unter einer deutlich höheren Arbeitslosigkeit leiden als Flandern, gegen ein liberales Freihandelsabkommen sind, erklärt sich zu guter Letzt auch aus innerbelgischen Kräfteverhältnissen. Seit 2014 regiert als Zentralmacht eine Mitte-Rechts-Koalition, als deren stärkste Partei die in Wallonien verhasste nationalistische Neuflämische Allianz (N-VA) firmiert. Ministerpräsident Charles Michel gehört zwar der liberalen Mouvement Réformateur (MR) an, doch verfügt die N-VA über die Schlüsselressorts und hat einen strikten Austeritätskurs durchgesetzt, der für das anstehende Haushaltsjahr die nächsten sozialen Einschnitte verheißt. Wenig friedensstiftend wirkt, dass an der Koalition neben drei flämischen Formationen nur eine frankofone Partei beteiligt ist, was der Regierung Michel im Süden des Landes nicht eben Sympathisanten zutreibt. Gewerkschaftliche Großdemonstrationen der Frankofonen sind die Folge.

Unter dem Eindruck derartiger Proteste steigen seit einiger Zeit die Umfragewerte für die linke Parti du Travail de Belgique (PTB), die eine kritische Stimme gegen den Sozialabbau erhebt. Was nichts anderes bedeutet, als dass der wallonischen Parti Socialiste – jahrzehntelang auf Regierungsautorität abonniert – erstmals linke Konkurrenz zu erwachsen scheint. Sicher kein Hauptgrund für das CETA-Veto Magnettes, aber bei der Ursachenforschung nicht zu vernachlässigen.

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