„Da geht er dann, dein Traum, normal zu sein“

Porträt Judith Visser wollte ihr Leben lang sein wie alle anderen. Als sie dachte, sie hätte es geschafft, bekam sie ihre Diagnose
Ausgabe 32/2019
Hunde interessiert es nicht, ob du normal bist
Hunde interessiert es nicht, ob du normal bist

Fotos: Ivo Mayr für der Freitag

Es ist ein diesiger Vormittag in Rockanje, einem Kaff an der Rotterdamer Riviera, wo sich jenseits der Saison wenig regt. Über Nacht ist die Temperatur gefallen, der Wind hat zugelegt, und im Badhotel am äußersten Rand des Dorfs ist wenig los. Soeben wurde das Frühstück abgeräumt, der hellblaue Pool vor der Terrasse ist verwaist. Dann biegt Judith Visser um die Ecke, in kurzem, ärmellosem Jeanskleid und schwarzen All Stars, in den Händen drei Leinen, an jeder einen großen Wolfshund – so läuft sie auf den Eingang zu.

Judith Visser, 41 Jahre alt, ist eine der bemerkenswertesten Schriftstellerinnen der Niederlande. Und sie ist Autistin. Als Thriller-Autorin hat sie es zu einigem Ansehen gebracht, samt Preisnominierungen und einer Verfilmung. Später sattelt sie auf Romane um. Als 2018 Zondagskind erscheint, wird es ein Bestseller. Das Buch (deutsch: Mein Leben als Sonntagskind) handelt vom Aufwachsen des Mädchens Jasmijn Vink, sie hat das Asperger-Syndrom, doch das weiß sie noch nicht. Sie erfährt es erst als Erwachsene. Der Roman ist stark autobiografisch, Jasmijn Vink ist Judith Visser. Wie ihr ist ihrer Protagonistin der Lärm in der Vorschule zu laut, traut sie sich nicht, mit der Lehrerin zu sprechen, und hat größte Probleme mit Situationen, die sie nicht vorhersehen kann. Sie lebt in einer Welt, die sie immer wieder überfordert.

Ihre zuverlässigen Stützen, das sind ihre Hündin Senta, immer an ihrer Seite, der Reitunterricht, aber eben nur, solange sie ihr Lieblingspony Cilly zugeteilt bekommt, und Elvis Presley. Dessen sanfte Stimme spricht sie auf ungekannte Weise an. Bei Senta, Cilly und Elvis weiß sie immer, woran sie ist. Noch eine andere Konstante bildet sich im Laufe von Kindheit und Adoleszenz heraus: die sogenannte „normale Jasmijn“, die Welten entfernt scheint, aber doch ein Alter Ego ist und eine Projektionsfläche, auf der sie in ihrem Tagebuch all das entwirft, was hätte passieren können, wenn sie wäre wie die anderen Kinder. Die „normale Jasmijn“ ist kontaktfreudig, beliebt, sie hat Freunde und weiß immer, wie sie sich zu verhalten hat. Den Namen Jasmijn habe sie gewählt, weil er an eine Blume erinnert, sagt Judith Visser. „Und je älter ich wurde, desto besser wurde ich darin, allerlei Eigenschaften auf blumige Weise zu verstecken.“

In ihrem Buch greift sie das verbreitete Halbwissen über Autismus auf, analysiert es und fügt es ein in die Welt der jungen Protagonistin. Vom Weglaufen aus der Kita, deren Gewusel und Geräuschpegel Jasmijn nicht erträgt, bis zum Einschlafen am Steuer des Fahrschulwagens, weil alles um sie herum sie überfordert. „Normal“, eine Referenz, die die Autorin selbst immer wieder benutzt, ist das alles nicht. Nur weiß sie lange Zeit einfach nicht, was sie hat. Es sind die 1980er, in einer Arbeiterfamilie in einem armen Viertel von Rotterdam, von Autismus hat dort noch nie jemand was gehört.

Wie vom LKW überrollt

Wie es sich anfühlte, damit aufzuwachsen, das kann Judith Visser detailreich und humorvoll schildern: „Ich wusste nicht, was sozialer Umgang war, doch es klang schrecklich.“ Neue Situationen müsse sie vorher durchspielen, „sonst fühlt sich mein Gehirn an wie von einem LKW überrollt“. Es hindert sie nicht daran, ihr Umfeld im Roman filigran auseinanderzunehmen, etwa die Sprachgewohnheiten der Vorschullehrerin: „Immer, wenn Fräulein Marleen den Buchstaben K aussprach, ploppte ein Spucketröpfchen in ihrer Stimme. Das Ploppen blieb in der Luft hängen und vermischte sich mit dem Klimpern von Mamas Armreifen, dem Ticken der Uhr auf dem Kaminsims, dem Gurren der Tauben auf dem Dach, dem Motorengeräusch der vorbeifahrenden Autos.“ All diese Bilder aus dem Buch schwirren im Kopf, wenn man ihr gegenübertritt. Wie kann ein Treffen mit einer Frau werden, der soziale Situationen Unbehagen bereiten?

Judith Visser wirkt freundlich, offen, sie kommt schnell ins Flachsen. Sie wirkt nicht wie Anfang 40, oder wie eine Bestsellerautorin, die routiniert Medientermine abspult. Auch ihre Stimme klingt jugendlich, sie ist aufmerksam, anwesend, zugänglich.

Gleichzeitig, so räumt sie unumwunden ein, gehe sie etwa zu Familienfeiern ihres Mannes lieber nicht mit, weil sie nach einer Stunde einfach genug hat und müde wird, was die anderen Gäste nicht verstehen. Außer ihrem Mann, den sie in ihrem Job als Rezeptionistin bei IBM in Rotterdam kennenlernte, und der besten Freundin habe sie wenig Kontakte. Laufe lieber täglich 20 Kilometer mit den Hunden durch die Umgebung von Rockanje.

Ein Job bei IBM? Wie geht das, wenn man Menschen vor allen Dingen meidet? Diese Arbeit gelingt ihr, auch als Autistin, sagt sie, weil die Abläufe vorhersehbar sind und es eigentlich nicht um sie geht, sondern immer um die Firma oder andere Mitarbeiter, zu denen sie Anrufe durchstellen muss. Auch der Tresen nützt, der sie von Besuchern trennt. In diesem Job lernt sie Telefonieren und Smalltalk. Das helfe ihr heute auch als Schriftstellerin. „Ein Interview ist kein Problem, ich habe die hondjes bei mir. Dann kann ich es mit der ganzen Welt aufnehmen“, sagt Judith Visser und lacht.

Kleine Geschichten erfand sie schon, als sie mit drei Jahren Lesen und Schreiben lernte. Später wurden die Tagebücher ihr Spielfeld, und als junge Erwachsene hegt sie den Wunsch, Bücher zu verfassen. Sie legt all ihren Jahresurlaub auf die Mittwoche, die ihr fester Schreibtag werden. Als das Buch bei einem winzigen Verlag erscheint, der keine Mittel für Werbung hat, lässt sie selbst Aufkleber drucken und versieht die ausgehende Dienstpost des Unternehmens damit. „Ich wurde sofort bei IBM entlassen, à la minute“, sagt sie. Seither ist sie Vollzeitschriftstellerin. „Es ist das Einzige, was wirklich zu meinem Dasein passt.“

Die hondjes richten sich im Essraum des Hotels ein. Husky-Mischling Sandy, die Älteste und Abgeklärteste des Rudels, hat sich auf den Holzdielen ausgestreckt. Yuriko und Fontana, die Wolfshunde, sind deutlich jünger. Sie balgen sich und stehen einer Kellnerin im Weg. Man kann diese ungewöhnlich enge Bindung spüren: Verrät Judith Vissers Stimme emotionale Regung, stupst Yuriko sie gleich an und vergewissert sich, dass alles in Ordnung ist. Bei jeder Anfrage lasse sie sich Yurikos Begleitung vertraglich zusichern, erzählt Judith Visser. „Wenn sie nicht willkommen ist, gehe ich nicht hin.“ Sie zieht ein Foto aus ihrer Ledertasche: Da sitzt sie auf der Bühne, Yuriko liegt zu ihren Füßen. Zusammen sind sie Botschafter der Stiftung „Helferhunde für Autismus“. Eine Lesung sei für sie ein überschaubarer Rahmen. „Ich spreche, die Zuschauer hören zu, und danach können sie einer nach dem anderen eine Frage stellen. Und wenn ich nervös werde, trippelt Yuriko direkt auf der Bühne rum. Also muss ich sie ruhig halten.“

Sesamstraße und Silicon Valley

Manche Computerfirmen im Silicon Valley stellen bevorzugt Autisten ein, von denen man weiß, dass sie zum Teil eine hohe mathematische Begabung haben und strukturiert arbeiten können. Asperger gilt dort als Alleinstellungsmerkmal, mit dem man sich positiv abgrenzen kann. Es wird als Wettbewerbsvorteil verstanden. Menschen mit Asperger (einer leichten Form der Erkrankung) interessieren sich wenig dafür, ob sie von anderen gemocht werden, und sind daher immun gegen den Herdentrieb, der nach der Logik der Unternehmen Innovationen bremst. Viele von ihnen können sich besser konzentrieren und haben ein Faible für Regelwerke und Zahlen. Sie gelten als optimale Entwickler. Das ist unter anderem ein Grund, warum es im Silicon Valley wesentlich mehr Autisten gibt als im US-amerikanischen Landesdurchschnitt.SogenannteSavants“, die Kalendertage computerschnell berechnen oder Buchseiten während des Lesens behalten können, lieferten meist Klischees über Autismus und die Vorlage für Hollywood-Filme wie Rain Man (1988). Solche Ausnahmetalente sind aber in Wirklichkeit äußerst selten. Das Bild ändert sich: Autisten werden mittlerweile weniger als nerdige Außenseiter wahrgenommen, sie werden sichtbarer und treten immer häufiger in Sitcoms und Fernsehserien auf, wie in den Netflix-Serien Atypical, Big Bang Theory oder Sherlock.

Seit 2017 hat die Sesamstraße eine neue Puppe, das autistische Mädchen Julia: Sie soll Kinder mit dem Thema vertraut machen und dazu beitragen, Vorurteile gegenüber autistischen Kindern abzubauen. Denn die meisten Zuschauer wissen gar nicht genau, was mit Asperger eigentlich gemeint ist.ML

Es war die Ruhe, die Judith Visser, aufgewachsen in Pendrecht in Rotterdam-Süd, vor neun Jahren nach Rockanje zog, wo sie heute lebt. Zuvor hatte sie sich hin und wieder für ein Wochenende im Badhotel eingemietet, das ein wenig aus der Mode fällt, angesichts anderer Herbergen an der niederländischen Nordsee. Die rustikalen Holzwände sind rot gestrichen, die Lampen an der Bar mit Holz in Form von Geweihen verziert, holzverkleidet die Balkone zum Pool hin. Wie ein nordamerikanisches Motel.

Auch Jasmijn Vink, die Protagonistin des Buchs, entwickelt ein inniges Verhältnis zu Rockanje. Es beginnt mit einem Ausflug am Ende des ersten Vorschuljahrs, als sie, die monatelang ein stummes Dasein in der Klasse gefristet hat, es erstmals wagt, mit der Lehrerin zu sprechen. Einmal „Danke“, einmal „Ja“ – ein Meilenstein. Es ist die Umgebung, die dies bewirkt: „Das Meer sah aus, als würde es atmen. Die Wellen wussten, dass sie ihr Ziel erreichen würden. Mehr verlangten sie nicht, und mehr wurde auch von ihnen nicht verlangt. Sie durften ganz sie selbst sein.“

In der Schule kam sie sich eingesperrt vor, erzählt Judith Visser ohne Umschweife, weil man sie, anders als die Wellen, nicht sie selbst sein ließ und sie sich immer unsicher fühlte. „Heimunterricht“, schießt es gleich aus ihr heraus, wenn man sie nach Vorschlägen fragt, wie man die Lage von Autisten verbessern könnte. Aber isoliert das ein betroffenes Kind nicht erst recht? „Na und? Warum muss man unbedingt andere Menschen sehen? Was ist der Nutzen davon, wenn du in deiner eigenen kleinen Welt glücklich sein kannst?“ Die verschiedenen Buchcover der niederländischen und deutschen Ausgabe scheinen diesen Gegensatz zu illustrieren: Das erste zeigt Vögel in Käfigen, auf dem zweiten radelt eine Frau, eine Topfpflanze auf dem Gepäckträger balancierend, dahinter läuft ein Hund. Judith Visser ähnelt heute dieser zweiten Frau. Sie hat sich eine Umgebung nach ihren Bedürfnissen geschaffen, mit ihrem Mann, den drei Hunden, dem Schreiben. Eigene Kinder möchte sie nicht, sagt sie, doch die Tochter ihres Mannes aus erster Ehe verbringt jedes zweite Wochenende in Rockanje. „Ich glaube an Phasen“, sagt sie. „Und in der jetzigen Phase bin ich ein sehr glücklicher Mensch.“

Gerade schreibe sie an der Fortsetzung von Zondagskind, mit der Hand, wie sie es bei all ihren zwölf Büchern getan hat. Es wird darum gehen, wie sich das Verhältnis der Protagonistin zur „normalen Jasmijn“ im Erwachsenenalter entwickelt. Sich der „normalen Jasmijn“ anzunähern, (wie) sie zu werden, ist für die Protagonistin – und ihr Alter Ego – ein jahrelanger Weg. Und als sie glaubt, es geschafft zu haben, Liebesbeziehungen und Freundschaften führen kann und einen Job hat, rät ihr der Fahrlehrer, sich untersuchen zu lassen, weil der Verkehr sie schlicht überfordert. Judith Visser hat bis heute keinen Führerschein.

Als sie ihre Diagnose erfährt, ist sie Ende 30. Die beste Freundin, die mit autistischen Kindern arbeitet, sieht zwar immer wieder Parallelen zwischen ihr und den Kindern. Doch ernsthaft an Autismus gedacht hat Judith Visser nicht. „Genau, wie ich auch nicht an Alzheimer gedacht hätte.“ Sie lässt sich auf den Rat der Freundin hin untersuchen. „Und dann stellt sich also raus, dass du Autismus hast. Da geht er dann, dein Traum, normal zu sein.“ Sie muss über den letzten Satz lachen. Ihre Krankheit trieb sie zum autobiografischen Roman, sonst habe sich kaum etwas für sie geändert. Ohne es zu wissen, hat sie sich bereits eingerichtet, was sie ein „autismusgerechtes Leben“ nennt. An einem ihrer festen Schreiborte im Wald bringt sie die erste Version ihrer Geschichten zu Papier, die sie hinterher am Laptop überarbeitet. Sie brauche sehr wenig, sagt sie. „Gerade weil ich die Illusion hatte, dass ich endlich normal war, hatte ich mehr Selbstvertrauen bekommen. Dadurch war die Diagnose ertragbar und ich konnte offen darüber reden.“

Müttern Mut machen

Judith Visser tritt regelmäßig bei Autismuskongressen auf, sie möchte ihrer Krankheit ein positives Gesicht geben. „Ich sehe oft Mütter von autistischen Kindern, die verzweifelt sind. Dann mache ich ihnen Mut: Je älter ihr Kind wird, desto mehr kann es sein eigenes Leben bestimmen. Und dann geht es besser.“ Sie nehme wahr, dass in Europa mehr gesellschaftliches Bewusstsein für autistische Menschen entstehe, sie sichtbarer würden. Aber es nerve sie, dass etwa die Aktivistin Greta Thunberg oft nur als Autistin wahrgenommen werde. „Ich finde es stark, dass sie sich traut, in ihrem Alter so deutlich für etwas einzustehen. Aber leider kleben die Leute ihr immer gleich dieses Label auf: autistisch.“

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