Das letzte Schlupfloch

Flucht Der Balkan galt als abgeriegelt. Nun hoffen viele auf einen Weg durch Bosnien-Herzegowina
Ausgabe 30/2018
Mit der „neuen Balkanroute“ verbinden sich je nach Perspektive mal Hoffnungen, mal Bedrohungsszenarien
Mit der „neuen Balkanroute“ verbinden sich je nach Perspektive mal Hoffnungen, mal Bedrohungsszenarien

Foto: Zuma Press/Imago

Warteschlangen vor Essensausgaben. Zeltcamps in Grenznähe. Menschen, die mit Rucksäcken beladen unterwegs sind oder sich in Parks von den Strapazen ausruhen. Szenen wie diese verbindet man in Europa gemeinhin mit der „Flüchtlingsbewegung“ entlang der Balkanroute, die im Spätsommer 2015 Zehntausende zu nehmen versuchten. Ausgerechnet im chronisch labilen Bosnien-Herzegowina gibt es seit diesem Frühjahr ein Revival: Das arme, noch immer vom Krieg gezeichnete Westbalkan-Land ist zum neuesten Hotspot auf dem Weg in die EU geworden.

Offiziell wurden in der ersten Jahreshälfte mehr als 7.600 Migranten registriert – gegenüber 218 im Vorjahr. Seit Mai hat sich ihre Zahl verdoppelt. Rund 4.000 bis 5.000 sind aktuell noch im Land, so die Internationale Organisation für Migration (IOM) in Sarajevo, die von 400 bis 500 neu Angekommenen pro Woche ausgeht. Die meisten von ihnen gelangen über die Grenze mit Serbien ins Land, wo sie zeitweise festsaßen. Die übrigen sind auf einer Route unterwegs, die von Albanien über Montenegro von Süden her nach Bosnien führt und inzwischen als „neue Balkanroute“ gilt, womit sich je nach Perspektive mal Hoffnungen, mal Bedrohungsszenarien verbinden.

Fäuste und Stöcke

Die Hoffnung richtet sich besonders auf die gut 900 Kilometer lange Grenze mit Kroatien, die durch bergiges Terrain verläuft und schwer zu sichern ist. Seit dem EU-Türkei-Deal von 2016 gilt die Balkanroute als „geschlossen“, doch nun fungiert Bosnien-Herzegowina plötzlich als quasi letztes Schlupfloch in die EU. In dem Maße, wie die Zahl der neu Angekommenen zunahm, rückte das Land in den Blickpunkt jener, die eine Wiederbelebung der Balkanroute fürchten; bereits seit Mai werden entsprechende Warnungen seitens der österreichischen Regierung lauter. Das Außenministerium in Wien spricht von 30.000 bis 40.000 Migranten, die auf dem Balkan unterwegs seien. In Slowenien, wo Anfang Juni die Rechtspartei SDS mit Antimigrationsrhetorik die Parlamentswahlen gewann, war von 50.000 die Rede.

Die österreichische EU-Ratspräsidentschaft hat erklärtermaßen das Ziel, den Balkan weiter abzuriegeln. In der Region selbst sorgt das Thema schon seit Monaten für Turbulenzen. So erwägt Montenegro den Bau eines Zauns an der Grenze zu Albanien. Im Juni trafen sich in Sarajevo die Sicherheitsminister der Region Südosteuropa, inklusive Ungarns und Österreichs, um über eine gemeinsame Antimigrationsstrategie zu befinden.

Die Zahl derer, die humanitäre Hilfe benötigten, nehme zu, so ein UN-Report vom 30. Juni. Auf Sarajevo, wo Ende Juli eine Unterkunft für Flüchtlinge eröffnet werden soll, treffe dies besonders zu. Bosniens Hauptstadt dient denen, die aus Serbien und Montenegro kommen, als Durchgangsstation. Größere Sorgen bereitet den Hilfsteams der UN die Situation im nördlichen Kanton Una-Sana, wo sich das Geschehen auf die Grenzstädte Bihać und Velika Kladuša konzentriert. Laut IOM halten sich in Sarajevo und Velika Kladuša derzeit jeweils 1.000 Migranten auf, in Bihać mindestens 2.000, so Westbalkan-Koordinator Peter Van der Auweraert. In Grenznähe häufen sich zudem Berichte über erzwungene Push-back-Aktionen gegenüber Migranten in Richtung Bosnien.

Die EU-Kommission hat zuletzt mehrfach betont, dass derartige Operationen illegal seien und Griechenland oder Bulgarien dafür gerügt. Doch sind sie seit dem Türkei-Deal von 2016 gängige Praxis, etwa für die kroatischen und ungarischen Behörden an ihren Grenzen zu Serbien, nun auch an der kroatisch-bosnischen Demarkationslinie. Schon im Frühjahr gab es Berichte von Migranten, die über Gewalt kroatischer Grenzbeamter klagten. Schläge mit Fäusten und Stöcken gehörten ebenso dazu wie das Zerstören von Mobiltelefonen. Laut Karolina Augustova, derzeit als Helferin in Velika Kladuša aktiv, häufen sich die Repressionen. „Es gibt auch Berichte über Elektroschocks durch den Einsatz von Tasern. Andere Migranten erzählen, kroatische Polizisten hätten in die Luft geschossen, um sie einzuschüchtern.”

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