Der Alan Kurdi des Ärmelkanals

Calais/Dover Vor der Küste Frankreichs ertrinkt ein junger Sudanese. In England sorgt das nicht für Mitleid, sondern für noch mehr Hass
Ausgabe 36/2020
Beschlagnahmte Fluchtboote in Dover
Beschlagnahmte Fluchtboote in Dover

Foto: Ben Stansall/AFP/Getty Images

Auf den Handflächen des Schicksals wandeln wir. Und wir wissen nicht, was geschrieben steht“, das ist der letzte Satz, den Abdulfatah Hamdallah, genannt Wajdi, auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht hat. Geschrieben hat er ihn im Juni, zu Beginn des Sommers, in dem sich seine Hoffnungen auf Asyl in Frankreich zerschlugen. Kurz nach der Ablehnung seines Antrags fasste er offenbar den Entschluss, es dann eben in England zu probieren. Und per Boot dorthin zu gelangen. Hier, in Calais oder Dunkerque, ist es schon vielen gelungen, auf diesem Weg nach Grobritannien zu kommen.

Wer Geld hat, kann einem Schleuser 3.000 Pfund bezahlen für einen Platz auf einem Schlauchboot. Doch Abdulfatah Hamdallah besaß nichts, er kam aus Westkordofan, einem südlichen Bundesstaat im Sudan, und gehörte auch unter den Transitmigranten am Ärmelkanal zu den Ärmsten. Am Abend des 18. August begegnete er in Calais einem Cousin, der ebenfalls aus Westkordofan geflüchtet war. Der sollte später erzählen, Abdulfatah habe ihm gesagt, er werde ihn „auf der anderen Seite“ sehen. Er werde in England sein, jenseits der Meerenge von Dover, die gut 30 Kilometer breit ist.

Rudern mit einem Spaten

Was dann in jener Nacht passierte, hatte mit den „Handflächen des Schicksals“ wenig zu tun. In einem winzigen aufblasbaren Gummiboot versuchte Abdulfatah, der nicht schwimmen konnte, gemeinsam mit einem Freund den Kanal zu überqueren. Statt zu paddeln, hatten sie Spaten zum Rudern, was unter denen, die sich Überfahrten selbst organisierten, ziemlich verbreitet war. Eine Chance hatten sie nicht: Plötzlich verlor das Boot an Luft und kenterte. Der Freund konnte sich ans Ufer retten, wo man ihn mit Anzeichen einer Unterkühlung ins Krankenhaus brachte. Abdulfatah Hamdallahs Leiche wurde am frühen Morgen am Strand von Sangatte gefunden, zehn Kilometer westlich von Calais. Am Abend desselben Tages versammelten sich etwa 60 Migranten und einige französische Unterstützer in der Nähe eines Park in Calais, um des Toten zu gedenken. Wenig später fand die Beerdigung statt – ebenfalls in Calais, weil eine Überführung der Leiche in den Sudan zu Corona-Zeiten unmöglich erschien. Mehr als 150 Mitglieder der sudanesischen Community trugen Abdulfatah in einem braunen Holzsarg zu Grabe. Britische Zeitungen zitierten zwei von ihnen. Der erste nannte den Toten „unseren Freund“, der andere berichtete, er habe von dem riskanten Plan gewusst, nach England zu gelangen, ohne schwimmen zu können.

Zuflucht Europa

Flüchtlinge Als die EU Ende Februar von der Corona-Pandemie erfasst wurde, hatten in den 27 Mitgliedstaaten etwa 721.000 Menschen einen Asylantrag gestellt, bei denen es sich um ein Erst- oder ein Folgebegehren handelte – elf Prozent mehr als 2018. Das Gros der Antragsteller kam aus Syrien (78.545), Afghanistan (59.150), Venezuela (45.400) und dem Irak (35.170). Die Zahl der Flüchtlinge, die in der EU seit 2015 Schutz gesucht hatten, lag zu diesem Zeitpunkt bei 2,72 Millionen Menschen.

Verteilung der Antragsteller Anfang 2020 auf ausgewählte EU-Staaten:

Belgien 27.460
Bulgarien 2.150
Deutschland 165.600
Tschechien 1.915
Frankreich 128.900
Estland 105
Griechenland 77.300
Spanien 117.795
Niederlande 25.195

Antragsteller auf tausend Einwohner:

Zypern 11,5
Griechenland 7,2
Luxemburg 3,7
Deutschland 2,0

Mit der Zeit wurden einige Details über das Leben des jungen Sudanesen bekannt. Zu erfahren war, er sei schon 2014 aus dem Sudan geflohen, habe zwei Jahre mit einem älteren Bruder in Libyen verbracht, bevor er das Mittelmeer überquerte und über Italien nach Frankreich gekommen sei. Eine gängige Route, von der am Ärmelkanal immer wieder die Rede ist. Wer sie überlebt hat, schreckt nicht zurück vor Warnungen, dass auch die Passage nach England über die am stärksten frequentierte Schifffahrtsstraße der Welt lebensgefährlich sei. Und überhaupt: Welche Alternative gab es? Hilfsorganisationen und Menschenrechtsanwälte hatten immer wieder eine sichere Zugangsroute gefordert, um nach Großbritannien zu gelangen und dort einen Asylantrag zu stellen – vergeblich.

Es war Ende 2018, als man in Frankreich und Großbritannien erstmals davon Kenntnis nehmen musste, dass Geflüchtete aus Calais und Dunkerque mit zumeist seeuntüchtigen Booten Kurs auf die englische Küste nahmen. Mehr als 80 Personen wagten an den Weihnachtstagen die Überfahrt, wochenlang nahmen die Zahlen zu. Die meisten kamen aus dem Iran und wussten wahrscheinlich, dass die Passagen von Schmugglern organisiert wurden. Knapp 300 Personen erreichen seinerzeit die Gestade von Dover, für das Innenministerium in London genug, um den Notfall auszurufen.

Zelte werden konfisziert

Wer sich um jene Zeit in den Camps von Calais umhörte, stellte fest, dass da etwas ins Rollen kam. Selbst wer keinen Schleuser bezahlen konnte, dachte daran, es per Boot zu probieren. Die klandestine Kanalüberquerung, versteckt auf einem Lkw, war so gut wie unmöglich geworden und nicht weniger lebensgefährlich. Damit gab es in gut 20 Jahren Transitmigration nach Großbritannien eine Zäsur ohnegleichen. Die Regierungen in Paris und London verkündeten den Plan, jegliche Überfahrten durch verdoppelte Patrouillen zu unterbinden. Dennoch wuchsen die Zahlen weiter, da 2019 mehr als 1.800 Menschen über das Meer das Vereinigte Königreich erreichten. Wozu beitrug, dass in Calais – seit dort im Herbst 2016 das „Jungle“ genannte informelle Flüchtlingscamp mit gut 10.000 Bewohnern planiert wurde – das Überleben extrem erschwert war. Jedes neue Lager wurde verboten, obwohl die französischen Behörden genau wussten, dass die Migration kaum gestoppt werden konnte, solange ein besseres Leben in England nur eine Fährstunde entfernt zu liegen schien und an manchen Tagen die Felsen von Dover mit bloßem Auge zu erkennen waren. Tausende von Migranten wurden in die Industriezone am Stadtrand oder in die Dünenwälder am Meer verdrängt. Wer sich dort für länger niederlassen wollte, dessen Zelte wurden umgehend konfisziert. Depression und Elend waren die Folgen dieser Maßnahmen . Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Observers, die das Verhalten der Polizei dokumentierte, zählte allein 2018 452 solcher Räumungen. Ein Jahr später waren es 961. In diesem Sommer nun, kurz nach dem Antritt des neuen Innenministers Gérald Darmanin, erhöhten die Behörden die Schlagzahl, sodass im Juli die Unterkünfte von mehr als 800 Personen zerstört wurden.

Als Abdulfatah Hamdallah im Frühjahr in Calais eintraf, waren die nächtlichen Bootsfahrten längst zur Regel geworden, auch weil der Corona-Lockdown die Versorgungslage der Geflüchteten weiter erschwerte. In den städtischen Randgebieten ließ die lokale Verwaltung Flächen einzäunen und machte sie damit als Schlafplatz unbrauchbar. Auch ging die Zahl der nach England übersetzenden Trucks stark zurück, und eine stabile Gut-Wetter-Periode sorgte für eine anhaltend ruhige See.

Maya Konforti, Aktivistin bei der Initiative „Auberge des Migrants“, schätzt, dass gegen Ende des Lockdowns im Mai mehr als die Hälfte der Überfahrten gelungen sei, entweder per Boot oder an Bord eines britischen Rettungsschiffs. Verglichen mit den oft monatelangen Versuchen, es auf einem Lkw oder als blinder Passagier eines Eurostar-Zuges zu schaffen, eine geradezu unglaubliche Erfolgsquote – und ein Grund mehr, die Reise trotz aller Gefahren zu wagen. Im August stieg die Zahl derer, die England erreichten, auf etwa 5.000.

Abdulfatah Hamdallahs angespülter Körper am Strand von Sangatte ist inzwischen zum Politikum geworden, eine Art Alan Kurdi des Ärmelkanals. In England sind die Online-Foren voller Kommentare, in denen es heißt, dieser Fall sei Indiz für eine Invasion. Dass der gerettete Freund anfangs sein Alter mit 16 angab, aber ein Dokument bei sich trug, das ihn als 28-Jährigen auswies, leitete Wasser auf die Mühlen der Fremdenfeindlichkeit in den Boulevardblättern, um zügellos Häme und Hass zu verbreiten.

Die britische Innenministerin Priti Patel wollte zunächst die Passage für Flüchtlingsboote blockieren und bat die Marine um Hilfe. Natacha Bouchart, Bürgermeisterin von Calais und wahrlich nicht als Fürsprecherin Geflüchteter bekannt, sah darin eine „Seekriegserklärung“. Nach einer Warnung des UNHCR musste die Regierung in London schließlich darauf verzichten, Schiffe zu entsenden, nun sind Flugzeuge und Helikopter für Luftpatrouillen vorgesehen. Parallel dazu sollen Bootsflüchtlinge, die sich zuvor in EU-Staaten aufhielten, unter Berufung auf das Dublin-Abkommen wieder dorthin abgeschoben werden. Eine heikle Rechtfertigung, denn der absehbare Vollzug des EU-Ausstiegs Ende 2020 bedeutet auch, dass Großbritannien nach Ablauf der Übergangsfrist kein Teil dieser Regelungen mehr sein kann. Die EU-Verhandler haben ein entsprechendes Ersuchen Londons, es anders zu handhaben, bereits abgelehnt. Damit steht die Tory-Regierung vor einem Problem: Die „Kontrolle über die eigenen Grenzen“, von den Brexiteers lauthals verkündet, werden sie unter diesen Umständen wohl schuldig bleiben – die innenpolitische Debatte ist vorprogrammiert.

Sie könnte in den kommenden Wochen zum Schaden all jener ausgetragen werden, die verzweifelt genug sind, sich auch bei Herbstwetter auf ein Boot zu wagen. Wobei das „Wagnis“ nicht unbedingt eigenem Willen entspringt. Es gibt Berichte Geflüchteter, wonach Schleuser sie mit Waffengewalt in Boote gedrängt hätten. Maya Konforti, die schon zu Zeiten des großen „Jungle“ als Unterstützerin vor Ort war, erzählt von einer weiteren Räumung kurz nach dem Tod Abdulfatah Hamdallahs. Nun würden bis zu 300 Menschen unter verschiedenen Brücken von Calais schlafen. Sie fänden keinen anderen Ausweg, als sich für den Kanal und ein Schlauchboot zu entscheiden.

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