Wieder einmal richten sich die Blicke auf eine winzige Insel, den südlichsten Vorposten der EU im Mittelmeer, nur 100 Kilometer von der Küste Nordafrikas entfernt. Die schiere Zahl von möglicherweise mehr als 300 Opfern, die an Bord eines überfüllten Bootes waren und ertranken, verstört und rüttelt auf. Das numerische Ausmaß gibt dem Horror neue Dringlichkeit. Europa, heißt es allenthalben, könne nicht länger derartige Dramen mit Schulterzucken quittieren.
Mitte September, zwei Wochen vor dem Massensterben am 3. Oktober, sitzt Abraham Obi (29) auf einer Bank im Zentrum des einzigen Dorfes auf Lampedusa. Er hat seine erste Nacht in Europa hinter sich. Keine 24 Stunden zuvor, kurz vor der Morgendämmerung, hat die italienische Kü
he Küstenwache ihn und etwa 200 andere Schiffbrüchige aus Westafrika an Land geholt. Dass es dazu kam, nennt Obi einen „Durchbruch für mein Leben“. In anderthalb Jahren sei es für ihn der dritte Versuch gewesen, das Mittelmeer zu überqueren. Beim zweiten Mal kenterte das Fluchtschiff, doch wurden die Insassen gerettet und nach Libyen zurückgebracht. Beim ersten Mal war ein Schlauchboot schon nach wenigen Minuten gesunken, 80 Migranten ertranken. Obi konnte schwimmen und wieder die libysche Küste erreichen.Geschichten wie die des jungen Nigerianers sind nicht eben selten auf Lampedusa. Sie zeigen: Die Tragödie aus der vergangenen Woche hat viele Vorgeschichten. Von den allermeisten Überfahrten – den gescheiterten wie den geglückten, die man auf der Insel „Landungen“ nennt – bekommen die Europäer wenig bis nichts mit. Wenn allerdings ein Schiff mit gut 500 Passagieren an Bord nach zweitägiger Reise untergeht, erlaubt das eine Vorstellung von der Dimension einer nicht abreißenden Boat-People-Krise. Mehr als 50.000 West- und Nordafrikaner landeten 2011, im Jahr der Arabellion, auf Lampedusa. 2012 waren es rund 20.000. Für 2013 dürften die Zahlen nach der stabilen Schönwetterphase im Spätsommer schon jetzt höher liegen.Egal wo„Vermehrte Ankünfte“, vermeldete Anfang September Judith Gleitze, die für die Menschenrechtsorganisation Borderline Europe die Lage vor Ort beobachtet. Zweifellos seien die Nordküsten des Mittelmeeres ein Spiegelbild der Zustände an seinen südlichen Gestaden. Aus dem Post-Gaddafi-Libyen würden nach wie vor die meisten Boote aufbrechen. Es sei die Geografie, die Lampedusa zum Kristallisationspunkt der Migration in die EU mache. Und wer kommt, will bleiben. Frage an vier Jugendliche aus Eritrea auf Lampedusa: Wo in Europa würden Sie gern leben? Die Antwort ist vage: „Deutschland, Schweiz, Niederlande.“ Einer sagt noch „England“. „Ein Leben aufbauen, egal wo“, darum würde es gehen. In Italien will keiner ausharren. Das Refugium Lampedusa kannten sie vor ihrer Flucht noch nicht einmal vom Hörensagen.Den ganzen Sommer über sammelten sich Eritreer auf der Insel. Im Juli protestierten etwa 250 von ihnen vor der Dorfkirche gegen die Fingerabdrücke, die gemäß dem Dubliner Abkommen von allen Neuankömmlingen genommen werden. Wer einmal registriert ist, kann in keinem anderen EU-Staat mehr um Asyl bitten. Nach ihrem Aufbäumen wurden die Eritreer auf Lampedusa von der Prozedur ausgenommen. Die Aktivisten der lokalen Unterstützergruppe Askavusa vermuten, dadurch sollte etwas Druck aus dem Kessel der Auffanglager entweichen. An Europas Peripherie sei das gängige Praxis: Wer nicht in Italien registriert werde, müsse später nicht von Italien zurückgenommen werden. Man könne das Elendsverwaltung nennen.Und jetzt soll es damit zu Ende sein? Von allen Seiten wird eine Neuausrichtung der europäischen Flüchtlingspolitik verlangt – durch den Papst, Bundespräsident Joachim Gauck, Italiens Staatsoberhaupt Giorgio Napolitano, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Wird es einst heißen, nach dem 3. Oktober 2013 sei Europa zur Besinnung gekommen? Zumindest bringen ihre mörderischen Konsequenzen die Politik der Abschreckung in Verruf, auch wenn es weiter Stimmen gibt, besonders den Schleppern das Handwerk zu legen.Flüchtlinge sind ein lukratives GeschäftIm Berliner Büro von Borderline Europe sieht man das anders. „Schlepper gibt es nur, weil es Abschottung gibt“, sagt Sprecher Harald Glöde. „Ohne diese Hermetik wären sie arbeitslos.“ Keine Frage, der klandestine Markt wirft einiges ab. Eine Fahrt von Tripolis oder Misrata nach Lampedusa kostet inoffiziell 1.000 Dollar. 200 Passagiere übers Wasser zu schleusen, verspricht einen satten Gewinn. Darüber, wie die Schmuggler mit ihrer menschlichen Ware umgehen, erzählt man auf Lampedusa furchtbare Geschichten.Vor anderthalb Jahren bereits warnte Navanethem Pillay, UN-Hochkommissarin für Flüchtlingsfragen, jetzt schlage die Stunde der Syrer. Sie seien wegen des Bürgerkrieges auf dem Sprung nach Europa. Auf Lampedusa wird inzwischen allenthalben von Großfamilien aus Aleppo oder Homs berichtet. Einen Tag vor dem 3. Oktober zählte man allein 28 Kleinkinder, die von einem Schiff der Küstenwache an Land getragen wurden. Seit die Syrer unter den Boat People mehr und mehr dominieren, hat sich im südlichen Mittelmeer ein weiterer Zufluchtsort für Schutzsuchende herauskristallisiert: Sizilien.Am 4. Oktober erreicht ein Schiff mit Bürgerkriegsflüchtlingen die kleine Stadt Pozzallo im Süden der Insel. Nicht weit davon entfernt empfängt ein Frachtschiff aus den Niederlanden zwei Tage später einen Notruf der Küstenwache: Zwei Boote mit mehr als 170 Menschen, vermutlich Syrern, seien in Seenot geraten. Bei zwei Dritteln der Passagiere – wird die Reederei hinterher bekannt geben – habe es sich um Frauen und Kinder gehandelt. Sie werden aufgenommen und an Land gebracht. Die Nächsten, daran gibt es keinen Zweifel, sind schon unterwegs.