Eine ganz normale Nacht

Amsterdam Gras, Fehlschläfer, Pornos: Der Nachtrezeptionist eines Amsterdamer Hostels berichtet über die Abgründe seiner Arbeit

Verlassen liegt der Tresen in der leeren Eingangshalle. Dahinter ist jeder Tropfen zu hören, der aus dem Filter in die Kanne fällt. „Ich kam, um zu sagen, dass ich gehe“, singt Serge Gainsbourg. Wer hier noch gehen wollte, ist längst weg. Der Nachtrezeptionist hat den Gästen den kurzen Weg ins Rotlicht-Viertel in die Stadtpläne eingezeichnet. Und auch den längeren dorthin, wo noch annehmbare Musik läuft. Den letzen Eiligen hat er erklärt, wie man zum nächsten Coffeeshop kommt, rechtzeitig, bevor der um ein Uhr zu macht. In dieser Stadt schließt alles früh, das wundert immer alle, die aus Boston, São Paulo oder Madrid kommen, um sich hier zu amüsieren. Es lebt noch immer, das Bild von der Stadt, in der alles geht. Auch wenn den Straßenmusikanten längst ein Bußgeldkorsett übergestülpt wurde und man die streunenden Stadtnomaden aus dem Zentrum verjagt. „The Van Gogh Museum, and then obviously a coffee shop“, antwortete ein amerikanischer Rucksackreisender auf die Frage, was es hier zu tun gebe. Kultur und Drogen, das ist der Schlüssel.

Rollkoffer statt Rucksack

Kaffee ist fertig. Als hätte er es gerochen, klingelt der Backpacker-Forscher. Nach getaner Recherche war der deutsche Anthropologe noch auf einen schnellen Drink raus gegangen. Morgen muss er weiter hetzen. 20 Städte in 30 Tagen, kreuz und quer durch Europa, auf der Suche nach Managern, Personal und Gästen, Zahlen und Trends. Gerne nimmt er eine Tasse. Dann beginnt er von Hostels im Strukturwandel zu erzählen. Verbesserter Service, gratis Internet, gehobener Standard. Dieses hier hat den Trend verpasst. Zumindest was das Angebot betrifft. Vor ein paar Jahren wurde die Küche abgeschafft, letzten Winter hat die Bar dicht gemacht. Kleine Snacks verkauft seitdem die Nachtrezeption. Minimalistenpizza für neun Euro. Andere rätselhafte Tiefkühlobjekte für 4,50 Euro. Dafür sind die Schlafsäle überfüllt und muffig, nachts huschen Mäuse durch die Eingangshalle.

Andererseits, wendet der Backpacker-Forscher ein, hätten die Reisenden auch mehr Geld zur Verfügung. „Schon mal von Flexpacking gehört? Man fährt nicht mehr Bahn oder Bus, sondern fliegt. Getrampt wird ohnehin nicht mehr, und das Statussymbol Rucksack hat dem geschmeidigen Rollkoffer Platz gemacht.“ Erzähl’ mir etwas Neues, denkt der Nachrezeptionist. Am frühen Morgen trägt er den Gästen manchmal die Rollkoffer die Treppen hinunter, bevor sie, überfrachtet mit Souvenirs, zum Bahnhof hasten. Mittags wird er dafür vom Rollengeräusch auf dem Kopfsteinpflaster aus dem Schlaf gerissen.

Organisierter sei das Ganze geworden, sagt sein Gegenüber. Der Rezeptionist nickt. Fast nie, dass jemand ohne Reservierung anreist. Manchmal, wenn alle Betten belegt sind, bringt er Gestrandete im Fernsehraum unter, oder im Keller. Aus Sentimentalität. Bevor die Tagesschicht kommt, müssen sie raus. Ist ja kein Asyl hier.

„Jemand schläft in meinem Bett“, kommt es halb verunsichert, halb empört von der anderen Seite des Tresens. Der Rezeptionist blickt auf. Er hat den Jungen nicht kommen gesehen. Wird ja auch Zeit, denkt er. Im Sommer passiert das ständig. „Hast du mit ihm geredet?“ Dass es ein Mann ist, setzt er voraus. Erfahrungswert. Frauen legen sich nicht ohne weiteres in einem Hostel in ein fremdes Bett. Niemals. Egal, was sie zu sich genommen haben und wie viel davon. Er hat nicht mit ihm geredet. „Na, dann weck ihn auf oder schmeiß ihn raus. Ich kann hier nicht weg.“ Der Rezeptionist dreht den Kopf nach links. Durch die Fensterfront fällt sein Blick aufs Wasser. „Buenas, alte Gracht, wie ist die Strömung heute?“ Die Ansicht ist vertraut, eine lieb gewonnene Konstante – in wachen, aufgekratzten Nächten, in abwesenden, gedankenverlorenen und zähen. Im Frühsommer gibt es hier, so weit im Westen, nur einen Hauch von Dunkelheit. Im November fegt der feindselige Wind Nordhollands hektische Wogen in Richtung der Amstel. Im Winter liegt bewegungslose Stille über dem Pegel, statisch, an der Schwelle zur Unwirklichkeit. Manchmal friert es.

Einsamer Diensthabender

Ein Knistern kommt von den Automaten gegenüber. Nach den vielen Nachtschichten kann er die Geräusche des Ortes lesen. Dieses hier klingt nach „Fressflash“, Hunger nach dem Kiffen. Zwei Schokoriegel, runter damit, dann ein Griff ins Portemonnaie – süß war gut, salzig muss hinterher. Der Duft von Zwiebelgebäck strömt durch die Halle. Der Rezeptionist hält die Nase noch schützend in den Kaffeebecher, als der Hungrige auch schon kauend vor ihm steht. Einsamer Diensthabender, das heißt zwei offene Ohren für Reiseerlebnisse. Tresenkleber brauchen weder Einladung noch Einleitung, und im nächsten Moment sind sie mitten in einer wirren Skizze ihrer Europatournee. Der Gedanke an sein Bewerbungsgespräch lässt den Rezeptionisten schmunzeln. Wieso er sich für diese Stelle geeignet halte, hatte der Manager gefragt. „Ich mag die Nacht, und ich mag Geschichten“, war seine Antwort. Das hat er nun davon. Er ist kein Misantrop wie sein Kollege Santiago, der gerne schon um zwei Uhr die Stühle in der Halle hochstellt, damit sich die Gäste aus dem Gemeinschaftsraum in ihre Zimmer trollen. Jetzt aber ist es Zeit für den Rettungsanker. Er empfiehlt sich in die Bar, um das Frühstück vorzubereiten.

Als er zurückkommt, haben ein paar betrunkene Briten die Rezeption geentert und schauen Pornos am Computer. Nach kurzer Diskussion schaukeln sie lärmend ihren Betten entgegen. Der Rezeptionist blickt auf die Gracht, sie wirft kräuselnde Wellen. Er isst ein paar Orangen. Ein Vitaminstoß tut not, denn der Alibiputz steht noch aus. Als er anfing, hat er hier noch Staub gesaugt und gewischt. Jetzt gibt es nur noch Minimalprogramm, standardmäßig. Er hat noch den Besen in der Hand, als zwei durchnässte Jungs mit Kapuzen klingeln. Halb sieben, der Eurolines-Bus aus Paris ist angekommen. Sie haben die ganze Nacht kein Auge zu getan. Er reicht ihnen Kaffee, sie trinken schweigend. Schlafentzug verbindet. Über der Gracht geht ein fleckiges Grau auf. Es ist an der Zeit, das Spukschloss zu verlassen. Einmal mehr fällt ihm auf, dass er noch nie bei Tag hier war.

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