Es riecht nach Eskalation

Frankreich Seit Monaten spitzt sich die Lage der Transitmigranten in Calais dramatisch zu. Dass sie sich nun gewaltsam entladen hat, kann nicht weiter überraschen
Migranten am Zugang zum Hafen von Calais
Migranten am Zugang zum Hafen von Calais

Foto: Denis Charlet / AFP - Getty Images

Die Schlagzeilen am Tag danach sprechen Bände, wieder einmal. "Eine Explosion der Gewalt in Calais", vermeldet Le Monde. Von "Kriegsszenen" spricht die Huffington Post und zitiert bemerkenswerterweise ein Mitglied der Unterstützergruppe L'Auberge des Migrants. Frankreichs Innenminister Gérard Collomb kam noch am Abend nach Calais und konstatierte: "Ein ungekanntes Ausmaß der Gewalt."

Wie man es auch nennt – der 1. Februar 2017 ist ein Meilenstein des Schreckens im transitmigrantischen Drama, das sich seit zwei Jahrzehnten am Ärmelkanal abspielt. Bei drei Massenschlägereien rückten mehrere Hundert Migranten aus Eritrea und Afghanistan gegeneinander an, bewaffnet teils mit Stöcken und Eisenstangen, auch Schusswaffen und Messern. Fünf Migranten wurden angeschossen, vier davon schweben Stunden nach dem Geschehen noch in Lebensgefahr. Über ein Dutzend Menschen wurden verletzt.

Es ist wahrhaftig nicht die erste Konfrontation dieser Art und Dimension in Calais – wohl aber eine der blutigsten in der langen Geschichte einer repressiven Elendsverwaltung in dieser Region. Den Regierungen in Paris und London wie auch den EU-Gremien in Brüssel ist bislang nur das Übliche eingefallen, um mit einem solchen migrantischen Nadelöhr wie an diesem Ort umzugehen: Es wurden Mauern hochgezogen, Barrieren aus Stacheldraht errichtet und die Camps der hoffnungslos Gestrandeten leergeräumt, wenn sie über die Ufer der ihnen zugestandenen Fläche zu treten und unkontrollierbar zu werden drohten. War die Vertreibung vollzogen, betrachtete man das Thema als erledigt und erklärte sich entsprechend – bis wenig später wieder alles von Neuem begann.

Drang zur Selbsthilfe

Das Beispiel Calais offenbart, dass sich die Situation wesentlich komplexer darstellt, als sie gemeinhin wahrgenommen wird: als Antagonismus zwischen dem unbedingten Willen zur Migration und einer „Festung Europa“, das sie nicht haben will. Allein die Schlepper spielen inzwischen eine nicht unerhebliche Rolle bei diesem Wechselspiel von Angriff und Abwehr. Dass sie bewaffnet sind und wenig Skrupel haben, hört man von Migranten schon seit Jahren. Der Einsatz von Schusswaffen bei den Gewaltakten um 1. Februar 2018 deutet vor allem auf eines hin: Je verzweifelter die Lage der Migranten, umso stärker wird ihr Drang zur Selbsthilfe, so martialisch und ziellos die auch ausfallen mag. Sie wird zur einzigen (trügerischen) Hoffnung.

Und dass die Lage verzweifelt ist, daran kann kein Zweifel bestehen. Seit Monaten gibt es haarsträubende Berichte über Polizisten, die Tränengas in die Zelte schlafender Migranten sprühen, ihnen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt Zelte und Schlafsäcke entziehen und zu gezielten Repressionen greifen, um die Flüchtlinge von der Stadt fernzuhalten. Erst vor wenigen Tagen wurde ein 16-Jähriger von Polizisten bei einer Räumung so sehr verletzt, dass er ein Auge verlor.

Es ist in diesem Fall unerheblich, wie man zur Unbeirrbarkeit der Migranten steht, klandestin nach England zu gelangen. Verantwortlich für die Gewaltexzesse dieser Tage ist der Umstand, dass Menschenrechte am Ärmelkanal seit Jahren mit gestiefelten Füßen getreten werden. Nun ruft die französische Regierung Migranten dazu auf, nicht mehr nach Calais zu kommen. Paris wird in diesem Sinne handeln. Es riecht damit erst recht nach Eskalation.

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