Ethos und Ethnie

Niederlande Bei der Parlamentswahl im März tritt erstmals die Partei Denk an. Sie sieht sich als Anwältin von Minderheiten und steht türkischen Nationalisten nahe
Ausgabe 05/2017

Schon jetzt muss sich die Einwandererpartei Denk über mangelnde mediale Zuwendung nicht beklagen. Über niemanden sonst wurde in den Niederlanden während der vergangenen Monate derart viel und kontrovers berichtet, was freilich nicht überrascht. Denk reflektiert den oft erratischen Integrationsdiskurs eines Jahrzehnts. Anfang 2015 gegründet, hat sich die Partei dem Credo verschrieben: „Wir sind alle Niederländer, und die Niederlande gehören uns allen!“ Darauf basiert eine Agenda, die sich „gegen Verhärtung und einen Rechtsruck der Gesellschaft“ wendet. Das Partei-Manifest verwirft die „Wir-gegen-sie-Stimmung“, die „nach den Anschlägen von 9/11 das politische Klima der Niederlande veränderte“. Man setzt stattdessen auf „Diversität versus Gruppendenken“ und die Idee einer Gesellschaft, in der „alle sie selbst sein können dank Toleranz und Gleichwertigkeit im Rahmen des demokratischen Rechtsstaates“.

Bemerkenswerte Bekenntnisse, deren Resonanz noch durch die Vorgeschichte von Denk akzentuiert wird. Hervorgegangen ist sie aus der unabhängigen Parlamentsfraktion „Gruppe Kuzu/Öztürk“, formiert durch die Abgeordneten Tunahan Kuzu und Selçuk Öztürk, die im November 2014 aus der Fraktion der sozialdemokratischen Partij van de Arbeid (PvdA) verbannt wurden, nachdem man sich über den künftigen Kurs in Sachen Integration entzweit hatte. Anlass der Kontroverse waren die Aktivitäten vier konservativer türkischer Akteure in den Niederlanden: von Millî Görüş, der Süleymancı-Bewegung, der staatlichen Religionsbehörde Diyanet sowie der Gülen-Bewegung. Für die PvdA behinderten diese Verbände die Integration der gut 400.000 „Nederturken“, weshalb man sie genauer unter die Lupe nehmen wollte. Kuzu und Öztürk, beide in der Türkei geboren, lehnten dies vehement ab. Dass Öztürk im Affekt dem PvdA-Kollegen Ahmed Marcouch zurief, Allah möge ihn strafen, sorgte für einen Eklat.

Hendrik und Hannane

Schon mehrfach haben sozialdemokratische Dissidenten den Diskurs über Einwanderung und Identität geprägt. Ayaan Hirsi, die sich der rechtsliberalen VVD anschloss, wählte allerdings einen gänzlich anderen Weg als Denk. Auch Pim Fortuyn, dem 2002 ermordeten Übervater des niederländischen Populismus, steht die Partei auf den ersten Blick diametral gegenüber. Bei näherem Hinsehen fällt jedoch auf, dass Fortuyns Auffassungen durchaus nachwirken. „Die Wirklichkeit der Regierenden in Den Haag hat sich immer weiter von der Wirklichkeit des Landes entfernt“, heißt es bei Denk wie einst bei Fortuyn, nur sind die Schlussfolgerungen andere. So betont das Wahlprogramm „Denkend an die Niederlande“ die Gleichheit zwischen „Hendrik und Hannane“, ein Seitenhieb auf die Ankündigung von Geert Wilders von der rechtsnationalen Partij voor de Vrijheid (PVV), er mache nicht für „Ali und Fatima“, sondern für „Henk und Ingrid“ Politik.

Denk plädiert statt für „Integration“ für „gegenseitige Akzeptanz“, die mit einem eigenen Ministerium und dem für alle Niederländer gedachten „Tag der Staatsbürgerschaft“ gefördert werden soll. Die gebräuchliche Bezeichnung „Autochtone“ wird verworfen und durch „türkische oder marokkanische Niederländer“ ersetzt. Zudem ist ein Rassismus-Register für Personen geplant, die sich der Diskriminierung schuldig machen und demzufolge nicht mehr im öffentlichen Dienst arbeiten dürfen, wofür eine 1.000 Beamte starke Rassismus-Einheit der Polizei zu sorgen hätte. Weiterhin will Denk den öffentlichen Raum „dekolonisieren“ und Straßen oder Brücken umbenennen, die an Figuren der Sklaverei oder Kolonialzeit erinnern.

In einem Klima, in dem Identitätspolitik eine immer wichtigere Rolle spielt, gehen diese Vorschläge vielen weißen, nichtmigrantischen Niederländern entschieden zu weit. Die Abneigung, die Denk so in Teilen der Gesellschaft erfährt, hat noch andere Gründe: die latente Nähe der Parteigründer Kuzu und Öztürk zur türkischen Regierungspartei AKP, dazu Positionen, die der eigenen Agenda von Emanzipation und Gleichheit widersprechen.

Das Scheitern des Putschversuchs in der Türkei wurde auf der Denk-Website mit der Formel begrüßt: „Die Demokratie hat gewonnen.“ Als die niederländische Kolumnistin Ebru Umar – sie nannte Präsident Erdoğan den „megalomansten Diktator seit Gründung der Republik“ – im Frühjahr 2016 während eines Türkei-Urlaubs festgenommen wurde, kommentierte Spitzenkandidat Kuzu: „Wenn du nach Singapur gehst, kiffst du dann dort, obwohl du weißt, dass darauf die Todesstrafe steht?“ Den Genozid an den Armeniern möchte Denk ebenfalls nicht anerkennen. Von Kuzu gibt es zudem Video-Aufnahmen, wie er 2015 bei einem Meeting in Rotterdam spricht, bei dem Symbole der faschistischen „Grauen Wölfe“ gezeigt werden.

In rechtskonservativen Kreisen gelten Kuzu und Öztürk als Agenten der Islamisierung und der Türkei, was beide energisch zurückweisen. Der Publizist Mehmet Kirmaci wirft den Denk-Gründern vor, „bei jeder Kritik an Ankara höchste Verteidigungsmauern hochzuziehen“. Als Beispiel nennt er die Verharmlosung eines Briefs des damaligen türkischen Premiers Ahmet Davutoğlu, mit dem die „Nederturken“ Ende 2015 aufgefordert wurden, AKP zu wählen.

Kommen und Gehen

Mitte 2016 schien die Einbeziehung der aus Surinam stammenden TV-Moderatorin Sylvana Simons der Denk-Agenda mehr Gewicht zu verleihen. Simons, bekannt für kritische Positionen in der Rassismus-Debatte um den Nikolaus-Helfer „Zwarte Piet“, galt als Chance, Wähler jenseits der Nachkommen türkischer beziehungsweise muslimischer Gastarbeiter zu gewinnen. Kurz vor Jahresende gab Simons plötzlich bekannt, künftig mit ihrer eigenen Partei „Artikel 1“ antreten zu wollen. Themen wie Frauenemanzipation, Lohngleichheit und Homosexuellen-Akzeptanz seien dort besser aufgehoben „als bei der teils konservativen Basis von Denk“. Letztere könnte damit in puncto Elektorat auf vorwiegend niederländisch-türkische Kreise angewiesen sein, gut ein Drittel der Kandidaten stammt aus diesem Milieu. Die Umfragen prophezeien drei bis fünf Sitze im Haager Parlament.

Bereits jetzt deutet sich an, dass Denk ungeachtet seiner Diversitätsprogrammatik das politische Personal und Wahlverhalten signifikant ethnisieren könnte. Aufhorchen ließ in dieser Hinsicht im Herbst Mohamed Keskin, der bis dahin unabhängiges Mitglied im Stadtrat von Alkmaar und Sozialdemokrat gewesen war. Dessen Übertritt zu Denk wurde von Parteichef Selçuk Öztürk mit den Worten kommentiert, Keskin sei der erste, aber nicht letzte Politiker aus anderen Parteien, der sich ihm anschließe. Er hat Recht behalten. Inzwischen folgte Gökhan Çoban, der zuvor die liberalen Democraten 66 in Veenendaal bei Utrecht vertreten hatte. Setzen sich solche Übertritte fort, werden die ohnehin kriselnden Sozialdemokraten die Leidtragenden sein. Sie müssen bei der Parlamentswahl am 15. März mit Stimmverlusten rechen.

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