Als sie zum ersten Mal ihren neuen Arbeitsplatz betreten, sind Titus Tiel Groenestege und Geert Lageveen verzückt. Die beiden Amsterdamer Theatermacher stehen in Sexbierum, einem Anderthalbtausend-Seelen-Kaff, in der Mitte eine Kirche mit Friedhof, dazu Bäcker, Fleischer, Mechaniker, Tanke. Es liegt in Friesland und gehört zur Europäischen Kulturhaupstadt 2018. Die Autoren inszenieren hier ein Musiktheaterstück, das sich mit der Wirklichkeit auf dem flachen Land beschäftigt. Es spielt im Gewächshaus.
Vor den langen Reihen mit Tomatenpflanzen sind frische Bretter verlegt, deren Geruch sich mit dem der Pflanzen vermengt. Dahinter erhebt sich eine Tribüne: neun steile Reihen dunkelblauer Plastikstühle, im Halbkreis angeordnet, wie ein kleines Amphit
nes Amphitheater im kargen Hinterland der Wattenküste. „Was haben wir uns da bloß ausgedacht!“, sagt Lageveen zu Groenestege und grinst. „Selbst für Friesland ist das hier Provinz.“ Lageveen ist in der Nähe geboren, sein Coautor Groenestege, der auch Regie führt, wuchs ebenfalls in Friesland auf. Mit Orkater, ihrer Theatergruppe aus Amsterdam, sind sie nun in die Provinz zurückgekehrt. Im vollverglasten Gemüsearchipel am Dorfrand geht es in die heiße Phase der Proben von Lost in the Greenhouse (Verloren im Gewächshaus). Hier im Gewächshaus wird für eine Supermarktkette Snackgemüse gezogen.„An die Arbeit“, singen sieEs wird eine der Aufführungen des Festivals. Die Europäische Kulturhauptstadt wird das ganze Jahr über im maltesischen La Valletta sowie im niederländischen Leeuwarden und seinem Umland zelebriert. Friesland gilt in den Niederlanden schon als peripher. Vom Rest des Landes ist die Region durch einen 30 Kilometer langen Deich zwischen Nordsee und Ijsselmeer getrennt. Aus den Metropolen dauert es mit öffentlichen Verkehrsmitteln drei Stunden bis hierher. Wer aus dem Bus steigt, bemerkt als Erstes einen Wind, der den Duft von Rinderdung trägt.Für polnische Arbeitsmigranten sind abgelegene Orte kein Hindernis. Wie Lageveen und Groenestege bei ihren Recherchen feststellten, bilden sie unter den Erntehelfern die größte Gruppe. Daneben gibt es die alteingesessenen Friesen, Bulgaren, Rumänen. „Und türkischstämmige Griechen. Die sind beliebt bei den Chefs, weil sie die Hitze gut abkönnen.“Mit gelben Plastikkisten ausgerüstet, ziehen die Schauspieler in die Tomatenreihen, immer wieder, Kilo um Kilo ernten sie, ein polnisches Lied singend, das übersetzt „An die Arbeit“ heißt. Lageveen sagt, es sei vom Arbeitsethos der kommunistischen Periode inspiriert. Heute spürt man die Konkurrenz des spätkapitalistischen Westeuropas, wo sich die polnischen Arbeiter dank Freizügigkeit und Binnenmarkt legal verdingen, für eine Saison oder mehrere. Ein Vormann treibt sie an, zählt die Erträge, ernennt die Arbeiterin des Tages, bis die Schicht auf der Gewächshausgaleere vorbei ist.Die Hauptperson des Stücks ist der junge Pole Wojtek. Trotz guter Ausbildung findet er zu Hause keinen Job. Als Erntehelfer wird er Teil einer gemischten Truppe aus Polen und Friesen. Er beginnt eine Beziehung mit Klaske, der Tochter des Chefs, was die niederländischen Kollegen nicht gerne sehen und die polnischen auch nicht. Ein erfahrenerer Landsmann rät Wojtek, sich nicht an die hiesigen Frauen zu binden. Eines Tages wird Wojtek tot im Gewächshaus gefunden.Das Stück basiert auf einer wahren Geschichte, die sich vor einigen Jahren in der Region zutrug. Der Fall wurde nie ganz aufgeklärt, doch alles deutet darauf hin, dass das Opfer im Suff in einen Wasserlauf fiel und ertrank. Auch in Lost in the Greenhouse wird der Protagonist nicht ermordet. Das Stück thematisiert auch nicht xenophobe Gewalt, vielmehr die schwierige Beziehung zwischen polnischen und friesischen Arbeitern. Kollegial seien sie, aber ein wirklicher Austausch finde kaum statt, sagt Autor Lageveen. Ihre Pausen verbringen die Gruppen getrennt voneinander.Was für eine Gemeinschaft entsteht dort im Gewächshaus eigentlich? Darum soll es sich drehen, das europäische Festival. Um mienskip, den friesischen Begriff für Gemeinschaft. Beim Theaterstück im Gewächshaus wird aus der Realität europäischer Arbeitsmigration ein friesisches Sprichwort: „Jeder schaut auf mein Saufen, aber niemand auf meinen Durst“, sagt Geert Lageveen. Und erläutert: „Was spielt sich unter der Oberfläche ab? Viele wissen nicht einmal, warum die Polen hierherkommen.“Niederländer und Laien30 Laien stehen neben polnischen und niederländischen Darstellern auf der Bühne. Sie treffen erst abends, nach der offiziellen Probe, im Gewächshaus ein. Die Koornbeurs, ein kleines Theater aus dem nahen Städtchen Franeker, hat die Darsteller in den Dörfern der Umgebung gefunden. „Ihr Aufwand ist erheblich, sagt Griet Scheen, die in der Koornbeurs für ungefähr alles zuständig ist und hier als friesische Pflückerin in Erscheinung tritt: „Insgesamt zwölf Proben, und dazu die Auftritte!“ Das Zusammenspiel aus Professionellen und Amateuren findet sie fantastisch. „Und polnische Lieder haben wir auch gelernt.“In Leeuwarden soll Kultur dezentral sein, nahe an den Menschen der Gegend. Die Schwelle, die manche im platteland bei solchen Veranstaltungen empfinden, will man einebnen. So entstehen die Bühnen in Privat- und Dorfhäusern, am Wattenmeer und in der Pampa, als habe der beständige Wind sie übers Land verstreut. „Kultur ist eine Reaktion von Menschen auf Veränderungen ihrer Umgebung“, so beschreibt es Oeds Westerhof, einer der Direktoren.Das offizielle Festivallied ist ein friesischer Fado, komponiert von der friesischen Schauspielerin und Sängerin Nynke Laverman, die diesen portugiesischen Musikstil hier eingeführt hat: Seis oere thús („Um sechs Uhr zu Hause“). Es handelt von Fernweh und lokaler Verwurzelung: „Flieg in die Welt, mein Junge, um sechs Uhr zu Hause.“ Der lokale Rapper Kuò, der eine Strophe beisteuert, nimmt dieses Motiv auf: „Sechs Uhr zu Hause, alle am Tisch. Wo du auch bist, woher du auch kommst.“ Calvinistische Essenszeiten. Das friesische Dorf, so Direktor Oeds Westerhof, stehe symbolisch für alle anderen des Kontinents: „Die Hälfte der Bevölkerung Europas lebt in kleinen oder mittleren Städten in ländlicher Umgebung. Friesland ist eine Metapher für viele Gebiete in Europa.“Das vergessene platteland, wie die Peripherie auf Niederländisch genannt wird, und die vermeintlich abgehängten Menschen dort, solch ein Diskurs prägt Europas Gesellschaften seit Jahren. Gerade in den Niederlanden ist die Selbstbezogenheit des Ballungsgebiets zwischen Amsterdam und Rotterdam sprichwörtlich. Die Menschen wenden sich ab von Den Haag und der etablierten Politik. Bei den Kommunalwahlen im März ging ein Drittel der Stimmen an lokale Parteien. In Friesland sprechen die Menschen distanziert vom „Westen“, wenn sie die Metropolen meinen. Es ist mehr als nur eine geografische Entfernung.Die Stimme des platteland klingt auch in Beetsterzwaag, einem anderen friesischen Dorf, im Südosten der Provinz. Es hat eine schmucke, rot geklinkerte Straße, die sich durch den ganzen Ort zieht. Gut 600 Schritte, und in fünf Minuten ist das Dorf durchquert. An einem Sonntag im März wird es also zur Culturele Hoofdstraat, zur Hauptstraße erklärt, mit bildender Kunst, Literatur, Film und Musik bis zum Herbst. Douwe Kootstra hat seine Bühne in der Snackbar errichtet, diesem urniederländischen gastronomischen Genre. „Literarisch snacken“ soll man hier. Zwischen Burger und kaaskroketten erzählt der Schriftsteller Volksgeschichten. Manche kommen aus Friesland, andere aus Neuseeland. „Denn Volksgeschichten sind universell, und die Menschen überall gleich“, sagt Kootstra, der früher Grundschullehrer war. In der Luft liegt der Duft des Frittierens, heiß geliebt in den Niederlanden.Am anderen Ende der Hauptstraße, kurz vor der Tankstelle, wirbt ein Delikatessengeschäft, gelegen in einem Hinterhaus, mit „einem guten Stück Käse, aber auch trockener Wurst“. An diesem Nachmittag nimmt das filmhuis seinen Betrieb auf. In dem holzverkleideten Raum mit gepolsterten Stühlen surrt ein Projektor. Verschiedene Kurzfilme laufen, einer handelt von einem jungen Mann, der einer alten Frau mit schweren Verletzungen nach einem Autounfall beisteht. Gemeinschaft eben.
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