Wer sich mit dem Geschäftsmann Maurice de Hond zum Gespräch verabredet, bekommt knapp eine Adresse mitgeteilt. Büro oder privat? Vor dem schlichten Bungalow am Rand Amsterdams scheint die Antwort klar: Unprätentiöser kann eine Mittelschichtswohngegend nicht daherkommen. De Honds Haus ist aber zugleich sein Arbeitsplatz, ebenso wie jeder x-beliebige Ort, an den es ihn verschlägt. „Vor zehn Jahren dachte ich mir: Mach selbst, was du predigst”, sagt er. „Also kein Büro mehr, keine Mitarbeiter. Ich will mich von Ort und Zeit möglichst unabhängig machen. Außer im Flugzeug bin ich sowieso immer connected.”
Im Herbst wird de Hond 66. Natürlich mag man ihn da nicht mehr als digitalen Bohème bezeichnen. Zumal er jemand ist, der lieber allein vorneweg schreitet als Teil einer Gruppe zu sein. Auf Reisen machte er sich schon Mitte der neunziger Jahre mit Schraubenzieher und Draht an den Steckdosen seiner Hotelzimmer zu schaffen, um per Modem telefonieren zu können. Viele, die heute „überall arbeiten“ können, hatten da gerade mal ihre erste E-Mail-Adresse.
Seit fast einem halben Jahrhundert ist de Hond seiner Umwelt bei technischen Entwicklungen ein paar Schritte voraus. 1965, als 18-jähriger Erstsemester in Sozialgeografie, lernte er an der Amsterdamer Universität in einem Ferienkurs Programmieren. Sein erstes Mobiltelefon schaffte er sich 1976 an. „So groß“, sagt er, lacht und hält seine Hände fast einen halben Meter auseinander. Zehn Jahre später entwickelte er für eine Warenhauskette ein Konzept, in ihren Filialen erstmals im großen Stil PCs zu verkaufen.
Früher gegen heute
Jetzt hat er sich ein neues Ziel gesetzt – mithilfe digitalter Technik will er nichts Geringeres, als das Bildungssystem revolutionieren: Sein jüngstes Projekt ist eine neue Art Grundschule, „aus Ehrerbietung an einen großen Denker“, sagt de Hond, trage sein neuer Schultyp den Namen Steve-Jobs-School. Im August eröffnen sieben Pionierschulen über die Niederlande verteilt ihre Türen. Gelernt wird vor allem mit iPads, im Gruppenverband zwar, doch weitgehend individuell und begleitet von einem „Coach“ genannten Lehrer. Grundschule, das bedeutet in den Niederlanden, Kinder zwischen vier und zwölf Jahren. Zwar beginnt die Schulpflicht erst mit fünf. Doch da der Kita-Besuch nur bis zum vierten Geburtstag bezuschusst wird, gehen so gut wie alle Kinder danach zur Schule.
Im Frühjahr machte de Hond, der als selbstständiger Meinungsforscher konstant hohe Medienpräsenz in den Niederlanden genießt, sein Konzept bekannt. „Unterricht für eine neue Zeit“ hat er es genannt. Es klingt ambitioniert, Kritiker nennen es „hochtrabend“. Doch wie will man die radikale Umstrukturierung der Schule sonst nennen, die de Hond vorschwebt? „Zwei fundamentale Probleme“ habe er mit dem bestehenden Bildungssystem: „Es negiert die Möglichkeiten, die die digitale Welt bietet. Und statt Schüler individuell zu fördern, presst man nach einem bestimmten Plan Wissen in sie hinein.”
Früher gegen heute: Auf diesen Gegensatz kommt der Mann mit den kurzen, dunklen Haaren und den markanten Augenbrauen im Gespräch häufig zurück. Früher, sagt de Hond, war die Schulzeit die Periode im Leben, in der man lernte. Heute ist Wissen immer frei verfügbar. „Warum also sollte man noch einem Schema folgen, das sagt: Du bist jetzt neun, es ist Dezember, also machen wir Bruchrechnen?“ De Honds Fazit: „Die Schule bereitet nicht auf die Zukunft vor, sondern auf die Vergangenheit. Auf Gymnasien ist Latein oder Griechisch Pflicht, weil man das 1850 auf der Universität brauchte. Warum gehören Zehn-Finger-Tippen und HTML nicht zum Curriculum?”
Zukunft oder Zombies?
Mit seinen Ideen wird de Hond nicht überall der rote Teppich ausgerollt. Im Gegenteil: Kritiker warnen, sein Konzept sei oberflächlich und „noch dünner als das iPad selbst“, zudem gefährlich, da es Computersucht und Bewegungsmangel fördere. Soziale Fähigkeiten würden so nicht entwickelt, und das ständige Starren auf den Bildschirm bewirke Haltungsschäden. „Ist das die Zukunft, oder züchten wir hier Zombies, die ihr ganzes Leben über Tablets oder iPhones gebeugt verbringen?”, sorgte sich die konservative Zeitung HP De Tijd.
Die Schulaufsichtsbehörde immerhin stimmte dem Konzept zu. Dass sie angekündigt hat, den iPad-Schulen besonderes Augenmerk zu widmen, ist bei einem derartigen Einschnitt kaum verwunderlich. Digitalkritiker wie den deutschen Hirnforscher Manfred Spitzer muss diese Offenheit verschrecken. Der Autor des Bestsellers Digitale Demenz argumentiert, Lernen per Computer sei flüchtig und oberflächlich. Vierjährige Schüler am iPad nennt er schlicht „Kindesmisshandlung“. Ein apodiktisches Urteil, das de Hond launig kontert: „Früher sagten die Leute, wer Elvis Presley und die Beatles höre, werde ein schlechter Mensch.”
Die übergeordnete Idee, die de Hond umtreibt, könnte man „digitale Demokratisierung“ nennen. Einst standen dafür die PCs, die er für die Warenhäuser aussuchte, C64 und ZX Spectrum, günstige, robuste Geräte. Heute erklärt de Hond mit Nachdruck, warum der „Unterricht für eine neue Zeit“ gerade keine Elitenförderung sei. Die neue Schule sei öffentlich, sie koste keine Gebühren, und überhaupt sei er ein Verfechter des Prinzips Tablets für alle: „Wenn jedes Kind ein iPad hat, können wir gleiche Ausgangsbedingungen schaffen.“
De Hond will mittels Technik die Kluft zwischen Kindern aus bildungsnahen und -fernen Haushalten überwinden. Die Tablets, Minis für die Kleinen bis sieben, iPad2 für Acht- bis Zwölfjährige, werden aus öffentlichen Zuschüssen bezahlt. Je nach Schule leisten die Eltern einen Beitrag von etwa zehn Euro im Monat. Wer das nicht kann, dem soll ein Fond unter die Arme greifen, gespeist aus Spenden von Unternehmen, die dem Konzept gewogen sind. Apple gehört aber nicht dazu.
De Hond weiß aus eigener Erfahrung, wie sozialer Aufstieg über Bildung und Technikbegeisterung funktioniert. Der Sohn zweier Auschwitz-Überlebender aus dem jüdischen Proletariat Amsterdams erreichte als Erster seiner Familie einen höheren Schulabschluss, um sich dann beruflich „an der Schnittstelle von IT, Marketing und Datenverarbeitung“ auszutoben. Marketingleiter eines großen Branchenbuchs war er, IT-Direktor eines Zeitungsverlags und in den Neunzigern eine Schlüsselfigur der niederländischen Internetökonomie, bevor sein Unternehmen 2001 Konkurs anmelden musste.
Mit Avatar auf den Schulhof
Aber warum hat er sich jetzt ausgerechnet das Bildungssystem vorgenommen? Der Grund dafür lacht einem in einer Ecke seines Wohnzimmers auf einer Reihe von Porträtfotos an. Daphne, ein kleines Mädchen mit schwarzen Locken, das jüngste von de Honds fünf Kindern. Sie ist gerade vier und soll demnächst selbst auf einer iPad-Schule anfangen. Für seine Tochter sei der Umgang mit digitalen Geräten völlig normal, sagt de Hond. Begonnen habe es bei ihr mit einer virtuellen Baby-Rassel, die de Hond auf sein Smartphone lud, als Daphne ein halbes Jahr alt war. Er zieht sein Telefon heraus, klickt die App an, bewegt das Gerät hin und her und führt mit sichtbarer Freude vor, welche Geräusche dabei entstehen.
Wirklich verblüfft hat ihn nach seinen fünf Jahrzehnten technologischem Avantgardeseins, wie viel Geschick seine Tochter bereits im Kleinkindalter mit dem Tablet bewies. „Mir wurde klar, dass Kinder zu viel mehr im Stande sind, als sie verbal ausdrücken können. Ich habe vier ältere Kinder, aber in diesem Maß fiel mir das noch nie auf. Und da realisierte ich, dass das iPad eine Bildungsrevolution bei Kindern bewirken kann. Die Generation, die damit aufwächst, wird die digitale Kluft zwischen einem Online-Zuhause und einer Offline-Schule noch verstärken.”
Als erster Reflex drängte sich de Hond ein radikaler Gedanke auf: „Wenn Daphne schulpflichtig wird, unterrichte ich sie zu Hause.” Er suchte Lodewijk Asscher auf, heute niederländischer Vizepremierminister, damals noch in der Amsterdamer Stadtregierung für das Schulwesen zuständig. Asscher riet ihm, lieber eine eigene Schule zu gründen. De Hond machte sich auf die Suche nach Gleichgesinnten in kommunalen Schulverwaltungen und bei Lehrern. Ein gutes Jahr später wurden die Schulen eröffnet.
Sneek, Ende August. Ausgerechnet in dem verschlafenen Touristenstädtchen nimmt de Honds „Kinderrevolution“ ihren Anfang. Eine Gruppe Acht- bis Zwölfjähriger läuft mit ihren bunt umhüllten iPads durch das Gebäude, Fernsehjournalisten filmen und stellen den Kindern Fragen. De Honds Sätze klingen einem im Ohr, wenn man die Mädchen und Jungs in all ihrer Begeisterung beobachtet – Sätze von Tablets, die Schüler emanzipierten, indem sie sie von Empfängern zu Sendern machten.
Das iPad lobt die Schüler
Unterdessen rasen die Jüngsten draußen die künstlichen Hügel hinunter und kriechen um die Wette durch die Tunnel auf dem neu angelegten Schulhof. Danach geht es zurück zur „Letter School“, der App zum Schreibenlernen. Vor der Pause gab es eine Gruppenübung, nun wird das dort Erklärte individuell trainiert, sagt die Lehrerin zu den anwesenden Journalisten. Sie geht durch den Raum, schaut den Schülern über die Schulter, beugt sich hin und wieder über ein Kind, das nicht weiterkommt. Die meisten scheinen gut in Schwung zu sein, gemessen an den Klingeltönen und der Stimme, die bei richtigen Antworten aus dem iPad „gut gemacht“ ruft.
Am Mittag gibt es eine kleine Eröffnungsfeier. Die Direktorin, zuvor im Sonderschulbereich tätig, knöpft sich zuerst die Zerrbilder vor: Nein, die Kinder schauten hier nicht den ganzen Tag Youtube. Es gebe durchaus einen Stundenplan, nur sei der individuell zusammengestellt, in sechswöchigen Intervallen und in Absprache mit Eltern und Kindern. Und ja, sie hätten auch Bücher. Nur dass sie kaum als Lehrmittel gebraucht würden. Wie zum Beweis steht mitten im hellen Hauptgang der Schule ein proppenvoller Bücherschrank.
Standesgemäß ist die Eröffnungszeremonie. Neben dem realen Schulhof vor dem Fenster gibt es einen virtuellen, der für die Kinder immer offensteht, um Freunde zu treffen und zu chatten. Dazu haben die Schüler mit ihren Porträtfotos ihre eigenen Avatare kreiert. Einige Schüler stehen jetzt auf einem Podium. „Fünf, vier, drei, zwei, eins”, zählt Maurice de Hond ab. Der Großbildschirm auf dem Podium zeigt den virtuellen Schulhof, der noch leer ist. Bei „Null“ schalten die Schüler dort mit einem Klick ihren selbst entworfenen Avatar ein. De Hond steht daneben und lächelt.
Vielleicht, denkt man nach einer Begegnung mit Maurice de Hond, nahm das alles ja schon viel früher seinen Ausgang. 1958 fuhr er als Zwölfjähriger zum ersten Mal ins Ausland. Nicht weit, nur nach Brüssel zur Weltausstellung. Und die Aufbruchstimmung, die Technikbegeisterung, den Fortschrittsglauben, den er dort erlebte, so ungebrochen, wie man ihn schon wenig später als naiv belächeln würde, hat ihn nie mehr verlassen.
Vier digitale Werkzeuge und ein Versprechen an das Kind
Das Konzept der niederländischen iPad-Schulen basiert auf vier eigens entwickelten Werkzeugen: einem „digitalen Schulhof“, also einem Augmented-Reality-Treffpunkt. Dazu gibt es ein Programm, mit dessen Hilfe Lehrer Stundenpläne individuell erstellen und Elternkontakte koordinieren können. Die Teilnehmer von Gruppenprojekten können sich über eine weitere Anwendung über die jeweiligen Themen austauschen – sowohl die Schüler untereinander als auch die Schüler mit dem jeweils betreuenden Lehrer. Und schließlich können Eltern und Lehrer mittels eines „Learning Trackers“ die Fortschritte der Kinder beobachten.
Das Schulgebäude der iPad-Schule ist nach Themenräumen unterteilt – es gibt einen Sprachraum, einen Matheraum, die Sporthalle, ein Creative sowie ein Technology Lab. Geöffnet ist die Schule zwischen 8.30 und 18.30 Uhr. Die Anfangszeiten sind gleitend und werden ebenso wie die Stundenpläne in sechswöchigen Modulen vorab festgelegt. Auch Ferienzeiten sind flexibel. Auf Reisen bleiben Kinder digital mit der Schule verbunden und erledigen Aufgaben, wie etwa einen Film über ihr Urlaubsland oder ihre dortigen Aktivitäten zu drehen. Die staatlichen Minimumforderungen für Anwesenheit in der Schule werden aber eingehalten.
Als ethische Grundlage dient eine Liste von „Versprechen an das Kind“. Unter anderem will man den Schülern „gut zuhören, was sie lernen wollen“, ihren Wünschen über Lerninhalte und deren Abfolge entsprechen, aber auch beim sozialen Umgang und der Zusammenarbeit mit anderen helfen. Und man will alles tun, damit Kinder nicht gehänselt werden.
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