Oui, c’est dur“, das bekam Franck Vandenbroucke noch heraus, ehe ihm die Stimme versagte. Schluckend rang er nach Fassung, dann wiederholte er, wie schwer zu verkraften sei, was er gerade gesehen habe. Ein Gesundheitsminister aus der jüngst gebildeten neuen Regierung, der nach dem Besuch eines Hospitals in Liège mit den Tränen ringt, ist Sinnbild der zweiten Corona-Welle in Belgien. Nicht nur, weil Vandenbroucke, ein sozialdemokratischer Routinier, als harter Knochen gilt. Wie er sich äußert, ist ein Hinweis darauf: Das mit großem Elan gestartete Kabinett kann die drohende Katastrophe kaum abwenden. Nach relativen Zahlen ist Belgien das derzeit am schwersten von der Pandemie getroffene LandEuropas. Am 1. November waren von 100.000 Einwohnern gut 1.700 infiziert. Es kamen pro Tag im Schnitt 24.000 Neuinfektionen hinzu. Die Gesamtzahl der Betroffenen übersteigt den Wert 375.900 – bei einer Bevölkerung von knapp 11,5 Millionen.
Kaum noch Betten
Wie hart Belgien getroffen ist, sieht man daran, dass seit Ausbruch der Pandemie knapp 430.000 Fälle registriert wurden. „Es gibt keinen Zweifel, dass die zweite Welle höher und länger sein wird als die erste“, bilanzierten die Chefärzte der Krankenhäuser in drei frankofonen Provinzen vergangene Woche in einem offenen Brief an den Gesundheitsminister. Die französischsprachige Region Wallonien und das zweisprachige Brüssel sind schlimmer heimgesucht als Flandern, wo der Höhepunkt der Welle später erwartet wird. Die Botschaft der Mediziner war drastisch: Ohne schnelle und einschneidende Maßnahmen werde das Krankenhaussystem kollabieren. Wie das geschieht, dem kann man dieser Tage förmlich zusehen. Die Zahl der hospitalisierten Covid-Patienten lag am Wochenende mit fast 6.500 deutlich über dem bisherigen Höchstwert von Anfang April (5.759). Mitte November könnten es 10.000 sein. Von den 2.000 Betten auf belgischen Intensivstationen waren am 1. November noch 106 frei. Deren Zahl wird nun um 800 aufgestockt. „Was tun wir den Krankenhäusern an, wenn wir nicht vorsichtig sind“, so der sichtlich geschockte Gesundheitsminister in Liège.
Die gut 200.000 Einwohner zählende Stadt an der Maas, nahe den Grenzen mit Deutschland und den Niederlanden gelegen, gilt innerhalb Belgiens als Epizentrum der zweiten Welle. In nur zwei Wochen im Oktober wurden 2.800 neue Ansteckungen gemeldet. Ende des Monats mussten erste Patienten in Krankenhäuser anderer Städte verlegt werden, weil die Grenzen der Kapazitäten erreicht waren. Zeitungen waren schnell zur Hand mit zweifelhaften Zuschreibungen wie „Corona-Hauptstadt Europas“ oder „neues Bergamo“.
Die Zustände in Liège sind exemplarisch für den Rest des Landes, weil die Anzeichen eines überforderten Systems zu lange ohne adäquate Reaktion blieben. In einer Reportage des belgischen TV-Magazins Terzake vom 21. Oktober beschwert sich der Epidemiologe Filip Moerman, dass selbst als die Ansteckungszahlen schon rapide zunahmen, im Krankenhaus „La Citadelle“ Besucher ohne Masken erschienen und ihn auslachten, wenn er sich die Hände desinfizierte. Christian Hilkens, Chefpfleger der dortigen Covid-Abteilung, warnte, das Personal sei an der Belastungsgrenze: „Wir können vielleicht mehr Betten bereitstellen, aber wer versorgt die Menschen dann?“
In den letzten Oktobertagen wurde bekannt, dass in mehreren Kliniken von Liège auch Personal, das positiv getestet wurde, aber keine Symptome zeigte, trotzdem zur Arbeit kam. Zeitungen zitierten Philippe Devos, Chef der Intensivstation am CHC Mont-Légia-Hospital, der „Risiken“ für die Patienten einräumte, aber zugleich betonte, dies sei die „einzige Option“, um den völligen Zusammenbruch zu verhindern. Eine Aussage, die es bis in die Schlagzeilen schaffte. Weniger bekannt wurde, dass Devos schon Mitte Oktober warnte, die Lage sei „schlimmer als im März“ und könne zu einer Tragödie führen, bei der man den Zugang zur Ersten Hilfe regulieren müsse.
Ganz offensichtlich hatte die Regierung, die erst einen Monat im Amt ist, keine andere Option, als einen erneuten, sechswöchigen Lockdown zu beschließen. „Unser Land befindet sich in einem Gesundheitsnotstand“, so der liberale Premier Alexander De Croo. Seit Montag sind nun alle nicht unbedingt nötigen Geschäfte dicht, wird in Kontaktberufen nicht gearbeitet, haben die Schulen die Herbstferien bis Mitte November verlängert, sind private Begegnungen stark eingeschränkt. Seit Mitte Oktober schon ist die Gastronomie geschlossen, zudem gilt eine nächtliche Sperrstunde.
Schnell noch shoppen gehen
Die neue Regierung war mit dem Vorsatz angetreten, der wankelmütigen und unentschlossenen Corona-Politik ihrer Vorgänger ein entschiedenes Auftreten entgegenzusetzen. Jetzt aber drohen die Rettungssysteme zu versagen, und niemand weiß, was eine heraufziehende schwere Wirtschaftskrise abverlangt. Den flämisch-nationalistischen Oppositionsparteien N-VA und Vlaams Belang, die zuletzt in ihrer Region die weitaus meisten Stimmen bekamen, liefert beides Argumente, um nun erst recht ein eigenständiges Flandern zu propagieren.
Für heftige Diskussionen sorgte am Wochenende, dass es in mehreren Städten kurz vor Beginn des Lockdowns noch einen verkaufsoffenen Sonntag gab, angepriesen als vorerst letzte Shopping-Tour. In der Ikea-Filiale am Flughafen Zaventem wurde ein Rekordandrang registriert. Wie die Bilder davon beim medizinischen Personal ankamen, zeigt ein Tweet der Krankenschwester Frauke De Mol, die sich zusammen mit ihren Kollegen in voller Schutzkleidung auf ihrer Station postierte. Sie beschwerte sich über „egoistisches Verhalten“ und schrieb weiter: „Genießt euren Verkaufssonntag. Wir machen hier noch ein bisschen weiter. Bis in zwei Wochen, dann kannst du uns zeigen, was du gekauft hast.“
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