Flüchtlinge?" Rudy Bollaerts lacht. "Die gibt es hier nicht mehr!" Für den Kommissar der Schifffahrtspolizei im belgischen Ostende ist das kein Problem mehr. Schließlich war die Migrationsministerin Annemie Turtleboom kürzlich zur Inspektion an der Küste, um zufrieden die Bilanz dieses Sommers zu verkünden: 187 "Illegale" wurden verhaftet, ein Drittel davon habe man "repatriiert", also abgeschoben. Auch sei keiner der Badegäste mehr dem "Zidane-Trick" zum Opfer gefallen, öffentlich vorgeführter Fußball-Akrobatik, die Schaulustige davon ablenkt, dass gerade ihre Taschen entleert werden.
Die Schifffahrtspolizei führte der Ministerin während des Besuch stolz ihr neuestes Arbeitsgerät vor, um blinde Passagiere in der Fracht aufzuspüren: den Röntgenscanner oder die Snake Eye genannte endoskopische Kamera. Der Strom derer, die Großbritannien mit einem vermeintlichen Überangebot an Arbeit, großzügigen Kontrollen und fehlender Ausweispflicht anzieht, lässt sich mit solchem High-Tech-Arsenal allerdings kaum eindämmen.
Die Fäden selber ziehen
Vor Wochen noch klang Kommissar Bollaerts anders: "Ein ideales Biotop für Illegale" sei Ostende mit Tausenden Touristen, die man berauben könne, und einem von Wäldern umgebenen Hafen, der viel natürliche Deckung biete. Der Kommissar hatte den Ansturm an Transit-Migranten zu erklären versucht, den Ostende seit Anfang 2008 erlebte. Über 800 Personen waren allein bis Juni bei dem Versuch festgenommen worden, als blinder Passagier eines Truckers den Sprung über den Kanal ins Gelobte Land zu schaffen. Die Anlaufstelle des staatlichen Wohlfahrtszentrums CAW, eigentlich einheimischen Obdachlose vorbehalten, platzte aus allen Nähten, an manchen Tagen tauchten bis zu hundert Algerier, Marokkaner oder Palästinenser dort zum Duschen, Wäschewaschen und Zeit-tot-schlagen auf.
"Sie schliefen im Park unten beim Hafen, es gab viel zu wenig Lebensmittel, um sie zu versorgen, auch die medizinische Hilfe war unzureichend", erzählt Tine Wyns, die Leiterin des Centrums. "Viele kamen mit Verletzungen, Brüchen oder Schnittwunden, wenn sie vom Laster gefallen waren. Die Hospitäler gingen bis zur Notversorgung, mehr wollten sie nicht tun. Sie werden genäht, aber die Fäden müssen sich die Flüchtlinge selber ziehen."
Die überforderten Sozialarbeiter suchten Beistand und fanden ihn beim Roten Kreuz und der Vereinigung Ärzte ohne Grenzen. Beide erklärten sich bereit, in Ostende ein Auffanglager zu eröffnen. Doch die Stadtverwaltung winkte kategorisch ab. Ein Camp der Gestrandeten mitten im teuren Seebad? Und das zur Hauptsaison? "Die Stadt befürchtete, ihr Image könnte Schaden nehmen", bringt es Dirk Soenen - er koordiniert die Anlaufstelle - auf den Punkt. Also wurden repressive Maßnahmen ergriffen: Die Polizei, Schifffahrts-, Hafen- und Ausländerbehörden bündelten ihre Kräfte, um im Schulterschluss mit dem britischen Immigration Service gegen Transit-Migranten vorzugehen. Dirk Soenen: "Das war eine wirtschaftliche Entscheidung. Sie wollten die Flüchtlinge während des Sommers von den Straßen verbannen. Sie wollten damit nichts lösen und niemandem helfen, sie wollten nur abschrecken."
Junge Algerier, die nach den Mistral genannten Polizeiaktionen regelmäßig im CAW verkehren, geben ihm Recht. Man lasse sich davon nicht einschüchtern, jetzt kämen zwar weniger Migranten als noch im Frühsommer, doch ihr Ziel bleibe das Gleiche: "Jede Nacht versuchen es ein paar von uns", sagt Yussuf, der zwei verregnete Monate im Park am Hafenbecken hinter sich hat. Nur eine Straße trennt das Gelände vom Bahnhof, dahinter liegt der Trucker-Terminal, umgeben von Infrarotzäunen und jeder Menge Stacheldraht. Wer die Lastwagen erreicht, versucht sich in den Containern zu verstecken oder an der Außenhaut festzuhalten, bis der Laster die Fähre erreicht hat. Ein halsbrecherisches Unternehmen.Selbst flach auf dem Dach liegend oder festgeschnallt unter dem Wagen probieren die Flüchtlinge an Bord zu kommen.
Dass er irgendwann den Sprung nach England schafft, daran zweifelt Yussuf keine Sekunde. Warten müsse er eben, bis er wieder richtig laufen könne. Vor zwei Wochen brach er sich beim Sturz von einem Containerturm aus fünf Metern Höhe die Knöchel, auf der Flucht vor der Polizei. "Sobald es geht, werde ich es wieder probieren."
Gestalten aus dem Nichts
Gut 100 Kilometer weiter westlich versucht niemand mehr, Transit-Migranten aus dem Straßenbild fernzuhalten. Den stockenden Abendverkehr säumen kurz vor dem Hafen im französischen Calais immer wieder Gruppen von zwei oder drei Gestalten, die mit Kapuzen verhülltem Gesicht aus den Büschen kommen. Ein paar Meter schlendern sie über den Standstreifen und inspizieren vorbeifahrende Laster, als wären sie Tramper und der Lift nach England nur eine Frage der Geduld. Dabei würde es einen Fahrer 2.000 Pfund Strafe kosten, mit einem blinden Passagier an Bord bei der Einreise auf der Insel erwischt zu werden. Einige der Männer laufen mit hoch gezogenen Schultern zwischen den stehenden Fahrzeugen über die Fahrbahn, bevor sie wieder im Dunkel verschwinden, als hätte es sie nie gegeben.
Die Gegend nennt sich La jungle. Es ist das Refugium Hunderter Glücks- und Sonnensucher, die kurz vor dem Ziel feststecken. Vor vier Wochen wurde hier eine kanadische Journalistin vergewaltigt, ihrer Beschreibung nach von einem Flüchtling. Der Vorfall katapultierte das Thema Transit-Migranten zurück in die Öffentlichkeit, aus der es fast verschwunden schien, seit Nicolas Sarkozy, damals Innenminister, das umstrittene Auffanglager in Sangatte 2002 abreißen ließ.
"Zandgat" hieß der Ort früher, als in der Region noch Niederländisch gesprochen wurde, und ließ sich mit "Loch im Sand" übersetzen. Viel mehr war es nicht, und viel mehr gab es dort nicht, bis 1994 der Eurotunnel ein paar Kilometer weiter das Kaff aus seiner bodenständigen Lethargie riss und zur Transitstation für die Migration in Richtung Großbritannien bestimmte. Fortan verbarg Sangatte nichts vom hässlichen Gesicht eines unmenschlichen Grenzregimes, wie es die Festung Europa eben nicht nur an ihren Außengrenzen unterhält.
Um gegen Ende der neunziger Jahre die seinerzeit zahlreichen Kosovo-Flüchtlinge unterzubringen, die in den Straßen von Calais schliefen und sich nicht so einfach "repatriieren" ließen, eröffnete das Rote Kreuz 1999 ein Lager im Dorf Sangatte. Gebaut für etwa 600 Insassen, drängten sich dort bald 1.500 Menschen. Innerhalb kürzester Zeit wurde das Camp zum Anziehungspunkt für Heimatlose aus dem Irak und aus Afghanistan. Die erbärmlichen Lebensbedingungen stanken zum Himmel. Zehntausende scheiterten in jener Zeit mit dem Sprung nach drüben - einigen hundert gelang die Überquerung des Kanals, was bald für Verstimmungen zwischen Paris und London sorgte, so dass 2002 Innenminister Sarkozy entschied, das Lager aufzulösen. Im Gegenzug erklärte sich die Regierung Blair zur einmaligen Aufnahme von 1.200 Flüchtlingen bereit. Mit dem Ende von Sangatte schlug die Geburtsstunde von Association Salam. Seit sechs Jahren verteilen die Freiwilligen Essen an die in Calais Gestrandeten, Wartenden, Hoffenden.
Auch in der Dämmerung dieses Abends drängen sich in einer Seitenstraße hinter dem Hafen annähernd 400 Personen. Anders als in Ostende sind darunter Familien mit kleinen Kindern, die am Bordstein sitzen, Plastikschalen auf dem Schoß halten und essen. Über ihren Köpfen, auf der Rampe vor einer Lagerhalle, stehen noch Hunderte Schlange. Plötzlich ertönt Geschrei, unter den Wartenden ist ein Streit entbrannt, Fäuste fliegen, andere versuchen zu schlichten. Nervosität macht sich breit. "Arrêtez, arrêtez!", ruft Helène, eine der Helferinnen von Association Salam, hektisch, aber bestimmt. Als sich alle wieder beruhigt haben, erzählt sie, man habe den Verein gründen müssen. Nur so sei es möglich gewesen, diese Lebensmitteltafel zu legalisieren und die Flüchtlinge vor Polizeiübergriffen zu schützen. Es gebe Tage, da hätten sie hier 700 bis 800 Menschen zu versorgen. "In letzter Zeit eher noch mehr."
Tränengas im Morgengrauen
Auch Thomas, 24 Jahre und aus Eritrea, sitzt auf der Straße, isst zu Abend und erzählt dabei von den Schikanen der Gendarmerie. Manchmal kämen die Polizisten vor Sonnenaufgang in die verlassene Fabrik, in der er mit über hundert anderen untergekommen sei, und versprühten einfach Tränengas. Thomas zeigt auf einen Mann, der sich auf Krücken durch die Gegend schleppt und einen Schal um den Kopf gewickelt hat: "Den haben sie neulich erst verprügelt. Am liebsten packen sie uns ins Auto und setzen uns außerhalb der Stadt irgendwo aus."
Er selbst sei bei einer solchen Razzia einmal kurz vor der belgischen Grenze gelandet und habe viele Stunden gebraucht für die 50 Kilometer zurück nach Calais. Aber was sei das schon? Nicht mehr als eine Tagesreise, verglichen mit der Odyssee, die für ihn vor anderthalb Jahren in Eritrea begann. Nach drei Jahren Militärdienst habe er sich in den Sudan schmuggeln lassen. Von dort ging es drei Wochen mit dem Auto quer durch die Sahara, bis Thomas in Libyen zum ersten Mal verhaftet wurde, ein Vorgeschmack auf das Flüchtlingsdasein in Europa. In einem kleinen Boot habe er schließlich die Überfahrt nach Italien riskiert und sei unter den 20 Passagieren gewesen, die Lampedusa erreichten - 117 Menschen an Bord des Seelenverkäufers überlebten die Seereise nicht.
Obwohl der Septemberabend in Calais eher lau ist, zittert Thomas unablässig. Oben auf der Rampe bildet sich eine neue Schlange. Nun verteilen die Mitarbeiter von Association Salam auch Kleidung. Thomas winkt mit seinem Basecap dorthin und empfiehlt sich. "Entschuldigung, ich brauche dringend neue und vor allem warme Sachen."
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