Ein Schuldeingeständnis, das dramatisch klang: „Auf furchtbare Weise schiefgegangen“ seien die Dinge, so der niederländische Premier Rutte, als er die Demission seiner Mitte-Rechts-Regierung bekanntgab. Lodewijk Asscher, als Fraktionschef der Sozialdemokraten zwar in der Opposition, doch als Sozialminister in Ruttes vorherigem Kabinett mitverantwortlich für Behördenschikanen gegen Kindergeldempfänger, sprach von einem Menschenbild, „das den Staat gegenüber seinen Bürgern zum Feind werden“ ließe.
Beides trifft zu, zumal die Formulierung Asschers offenbart, wie sehr die sogenannte Kindergeldaffäre strukturell und mental bedingt ist. Was passiert ist, lässt sich nicht durch einen finanziellen Ausgleich für betroffene Eltern oder den vorzeitigen Abgang einer Koalition beheben. Wenn Rutte jetzt ein „vollständig neues Zulagen-System“ verlangt, wird suggeriert, das Versagen des bisherigen sei ein technischer Defekt.
Tatsächlich waren gut 26.000 Leistungsempfänger zu Unrecht des Betrugs verdächtigt und maßlosen Zahlungsforderungen ausgesetzt, die Existenzen bedrohten – da entlud sich Ideologie in Reinkultur. Drei Jahrzehnte der neoliberalen Kälte in Staat und Gesellschaft haben bewirkt, dass Eigenverantwortung zum Naturzustand erhoben und potenziell suspekt ist, wer soziale Hilfen beansprucht.
Menschen zu kriminalisieren fällt augenscheinlich leicht. Es weckt kein Unrechtsbewusstsein, wenn die doppelte Staatsangehörigkeit in vielen Fällen den Ausschlag gab, Betroffenen dreist unter die Weste zu schauen. Das darf man durchaus als systemimmanente, ethnisch motivierte Diskriminierung deuten. Insofern entspringt der Skandal einer politischen Kultur, die neoliberalen Kontrollwahn genauso verinnerlicht hat wie Rücksicht auf den rechtspopulistischen Diskurs.
Die Wahlen in zwei Monaten werden zeigen, inwieweit sich die Bevölkerung das bieten lässt. Die zehn Jahre währende Dominanz der marktfixierten „Volkspartij voor Vrijheid en Democratie“ (VVD) beruht nicht zuletzt auf dem Reflex, in Krisenzeiten Parteien zu wählen, die den Gürtel der Austerität enger schnallen. Dass die VVD in den Umfragen klar vor der rechtsnationalistischen Freiheitspartei (PVV) rangiert, zeugt nicht davon, dass sich diese Veranlagung bald ändert.
Kommentare 4
In dem Fall haben Beamte, Politiker und auch Richter über Jahre komplett versagt. Selbst der höchste Verwaltungsgerichtshof der Niederlande hat dieses Strafsystem noch einige Zeit als rechtmäßig bestätigt, und erst 2019 seine Fehler eingesehen. Offenbar gibt es unter den etwa 26.000 Fällen einige hundert, wo es wirklich um zigtausende Euro ging; Betroffenen mussten teils selbst ihre Wohnungen/Häuser verkaufen, sich hoch verschulden, Ehen gingen zu Bruch usw. In der Zeitung 'De Volkskrant' steht, dass nun die Kosten für Entschädigungen, Folgekosten und Verwaltungskosten u. dergl. um die 860 Mio. Euro erreichen... Und Rutte, gerade erst zurückgetreten, stellt sich offenbar wider zur Wahl... - (Komisch auch, dass man so wenig in der Dt. Presse dazu lesen konnte und kann...)
Was für ein Foto! Ob da noch was zu retten ist?
Sie haben einen Kalauer abgeliefert, finden nicht einmal nötig, den skandalösen Vorgang in seinen Zusammenhängen und Abläufen darzustellen.
Was die „neoliberale Kälte“ angeht, hat auch die Bundesrepublik einiges vorzuweisen.
Als ich 1976 in die Niederlande zog (ich habe dort von 1976 bis 2007 gewohnt), regierte dort die angesehene PvdA (Partij van de Arbeid). Die PvdA war traditionell der stärkste Widerpart der konfessionellen Parteien. Johannes Marten den Uyl war von 1973 bis 1977 Ministerpräsident der Niederlande und von 1967 bis 1986 Vorsitzender der Partij van de Arbeid.
Dann vollzog sich in den Niederlanden eine Entwicklung, die wir auch von der Bundesrepublik kennen: Die Sozialdemokraten machten sich zu Genossen der Bosse.
Dafür wurden sie von den Wählerinnen und Wählern abgestraft und mussten u.a. zunächst unter Jan Peter Balkenende (CDA) eine Koalition aus CDA, PvdA und ChristenUnie bilden und sich schließlich mit Herrn Rutte die Regierungsgeschäfte teilen.
Zuerst vom 14. Oktober 2010 bis zum 5. November 2012 im Rahmen einer Minderheitenregierung, die von der Freiheitspartei (PVV) toleriert wurde.
Die Koalition aus Liberalen und Christdemokraten mit Duldungspartner PVV sollte nicht einmal zwei Jahre halten. Sie zerbrach im April 2012, weil keine Einigung über nötige Spar- und Reformpläne erreicht werden konnte.
Bei den Neuwahlen für die Zweite Kammer am 12. September 2012 konnte Mark Ruttes VVD einen historischen Wahlsieg erringen. Mit 41 Sitzen setzte sie sich gegenüber der zweitstärksten Partei PvdA (38 Sitze) ab. Dieses Ergebnis bescherte Rutte eine zweite Amtszeit als Ministerpräsident.
Am 15. März 2017 wurden die Niederländer erneut zur Wahlurne gebeten. Ein weiteres Mal wurde die VVD stärkste Kraft. Die Partij van de Arbeid und fuhr einen Verlust von 29 Sitzen von ursprünglich 38 Parlamentssitzen (2012) nach jetzt 9 Sitzen. Gewählt wurden die 150 Abgeordneten der Zweiten Kammer.
Wie die deutsche SPD, so hat auch die Partij van de Arbeid in den Niederlanden die neoliberale Politik mitgetragen und ist daran zugrunde gegangen. – Ich gönne es ihnen!!!
Ekelhaft die Zwillingspartnerschaft zwischen dem deutschen CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble und Jeroen Dijsselbloem von der Partij van de Arbeid bei der Griechenlandkaperung durch Frau Merkel, Herrn Schäuble und Herrn Drahi 2015.
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»Die Wahlen in zwei Monaten werden zeigen, inwieweit sich die Bevölkerung das bieten lässt.«
Immerhin 606,70 Gulden – oder umgerechnet 275,31 Euro: Exakt so hoch war der erste gesetzliche Mindestlohn, der am 23. Februar 1969 in den Niederlanden eingeführt worden war. Heute liegt die gesetzliche Lohnuntergrenze für Vollzeitarbeitnehmer bei 1.615,80 Euro im Monat. Dies entspricht einem Stundenlohn in Höhe von 9,91 Euro. – Seit wann gibt es Mindestlohn in Deutschland?
Und die essenziellen Merkmale niederländischer Mentalität erlauben immerhin eine Grundrente (AOW steht für: Allgemeines Altersgesetz): Wer in den Niederlanden lebt, hat mit dem 65. Lebensjahr Anspruch auf eine Grundrente, die das Existenzminimum abdeckt. Unabhängig davon, ob er jemals Beiträge gezahlt hat, bekommt er 45 Prozent seines Durchschnittslohns und mindestens 70 Prozent des Nettolohns für einen Alleinstehenden.
Grundlage sind zwei Gesetze – das „Wet verplichte deelneming in een bedrijfspensioenfonds“ (BPF) aus dem Jahre 1949 sowie das „Pensioen- en Spaarfondsenwet“ (PSW) aus dem Jahr 1954.
Das alles hat den Mark Rutte als Premier der Niederlande und unbeirrbarer Anwalt einer calvinistischen Buchhalter-Mentalität überlebt.
Mark Rutte, ist Minister-president und minister van Algemene Zaken der Niederlande und als solcher in ein politisches Umfeld eingebunden, wie es Dr. Angela Merkel als Bundeskanzlerin für Deutschland ist. Ich schreibe dies nicht ohne Absicht.
Denn Mark Rutte in dieser Position braucht – wie Angela Merkel – Mitstreiter, seine Persönlichkeit (calvinistischen Buchhalter-Mentalität) mag einem sympathisch sein oder nicht, spielt da zunächst aber keine Rolle. Jedenfalls findet sich eine ganze Reihe von Niederländern von ihm gut repräsentiert, betreiben sie doch Handel mit der ganzen Welt.
Jawohl. »Die Wahlen in zwei Monaten werden zeigen, inwieweit sich die Bevölkerung das bieten lässt.«
Auf Bevölkerung(en) zu bauen, ist in diesen Zeiten brandgefährlich. Die Nationalitäten sind da eher zweitrangig.
Wie einer meiner Vorfahren mal meinte: Viele Menschen sind Pausen in der Synfonie des Lebens.