Mit der Ideologie im Reinen

Niederlande Drei Jahrzehnte neoliberale Kälte haben im Nachbarstaat zu einem Menschenbild geführt, das Kindergeldempfänger potentiell suspekt erscheinen lässt
Ausgabe 03/2021
Denkt denn niemand an die Kinder?
Denkt denn niemand an die Kinder?

Foto: Jasper Juinen/AFP/Getty Images

Ein Schuldeingeständnis, das dramatisch klang: „Auf furchtbare Weise schiefgegangen“ seien die Dinge, so der niederländische Premier Rutte, als er die Demission seiner Mitte-Rechts-Regierung bekanntgab. Lodewijk Asscher, als Fraktionschef der Sozialdemokraten zwar in der Opposition, doch als Sozialminister in Ruttes vorherigem Kabinett mitverantwortlich für Behördenschikanen gegen Kindergeldempfänger, sprach von einem Menschenbild, „das den Staat gegenüber seinen Bürgern zum Feind werden“ ließe.

Beides trifft zu, zumal die Formulierung Asschers offenbart, wie sehr die sogenannte Kindergeldaffäre strukturell und mental bedingt ist. Was passiert ist, lässt sich nicht durch einen finanziellen Ausgleich für betroffene Eltern oder den vorzeitigen Abgang einer Koalition beheben. Wenn Rutte jetzt ein „vollständig neues Zulagen-System“ verlangt, wird suggeriert, das Versagen des bisherigen sei ein technischer Defekt.

Tatsächlich waren gut 26.000 Leistungsempfänger zu Unrecht des Betrugs verdächtigt und maßlosen Zahlungsforderungen ausgesetzt, die Existenzen bedrohten – da entlud sich Ideologie in Reinkultur. Drei Jahrzehnte der neoliberalen Kälte in Staat und Gesellschaft haben bewirkt, dass Eigenverantwortung zum Naturzustand erhoben und potenziell suspekt ist, wer soziale Hilfen beansprucht.

Menschen zu kriminalisieren fällt augenscheinlich leicht. Es weckt kein Unrechtsbewusstsein, wenn die doppelte Staatsangehörigkeit in vielen Fällen den Ausschlag gab, Betroffenen dreist unter die Weste zu schauen. Das darf man durchaus als systemimmanente, ethnisch motivierte Diskriminierung deuten. Insofern entspringt der Skandal einer politischen Kultur, die neoliberalen Kontrollwahn genauso verinnerlicht hat wie Rücksicht auf den rechtspopulistischen Diskurs.

Die Wahlen in zwei Monaten werden zeigen, inwieweit sich die Bevölkerung das bieten lässt. Die zehn Jahre währende Dominanz der marktfixierten „Volkspartij voor Vrijheid en Democratie“ (VVD) beruht nicht zuletzt auf dem Reflex, in Krisenzeiten Parteien zu wählen, die den Gürtel der Austerität enger schnallen. Dass die VVD in den Umfragen klar vor der rechtsnationalistischen Freiheitspartei (PVV) rangiert, zeugt nicht davon, dass sich diese Veranlagung bald ändert.

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