Mit Kettensäge und süffisantem Grinsen

Niederlande Vor der Wahl scheinen die Sozialisten erstaunlich stark und die Volksparteien heftig angeschlagen. Im Nachbarland verschiebt sich die politische Landschaft
Seiner Partei wird bei dem Urnengang am Mittwoch eine beachtliche Stärke prophezeit: Emile Roemer, Spitzenkandidat der Socialistische Partij
Seiner Partei wird bei dem Urnengang am Mittwoch eine beachtliche Stärke prophezeit: Emile Roemer, Spitzenkandidat der Socialistische Partij

Foto: Robert Vos / AFP / Getty Images

Mitte August beim Wahlkampf-Auftakt der Socialistische Partij (SP): ein euphorisches Publikum, ein Umfragehoch und der Gassenhauer Doe mee met de SP (Mach mit bei der SP). Über allem liegt wie eine Verheißung das Ziel, das Land möge „menschlicher und sozialer“ werden. In dieser Aufbruchstimmung verpasst SP-Spitzenkandidat Emile Roemer, im weißen Hemd und ohne Krawatte, der vorgezogenen Parlamentswahl in den Niederlanden das bemerkenswerte Etikett: historisch.

Zur Übertreibung, heißt es allenthalben, neige der ehemalige Lehrer nicht. Zumindest was die eigene Partei betreffe, sei sein Urteil mehr als realistisch. Auch wenn Roemers steile Aufstiegskurve zuletzt etwas abflachte: Seiner Partei wird bei dem Urnengang am Mittwoch eine beachtliche Stärke prophezeit – womöglich wird sie stärker als je zuvor.

Soziale Agenda

Nachdem das rechtsliberale Kabinett von Premier Mark Rutte im April mit seinem massiven Sparprogramm gescheitert ist, wirbt Roemer für eine „soziale Agenda statt Zahlen und Regeln“. Die Wahrheit liege nicht mehr in der Mitte, sondern bei seiner Partei. Dass er dafür viel Sympathie erntet, erscheint in den konsensorientierten Niederlanden mehr als außergewöhnlich.

Der Aufstieg der Sozialisten deutete lange vor allem auf den Abstieg der Sozialdemokratie – obwohl diese in den letzten Umfragen nun wieder etwas gefestigter scheint. Ein zwei Jahrzehnte dauerndes Lavieren zwischen Tradition und Liberalismus hat der Partij van de Arbeid (PvdA) geschadet. Ihr Protest gegen die Austeritätsdogmen der EU und der Regierung Rutte wirkt wenig glaubwürdig. Und das, obwohl sich die Sozialdemokraten unter ihrem neuen Parteichef Diederik Samsom so kämpferisch wie lange nicht geben.

Wo der Schlamassel am tiefsten ist

Noch tiefer im Schlamassel steckt freilich die zweite Ex-Volkspartei: der Christen Democratisch Appèl (CDA). Dessen Beteiligung an der rechten Minderheitskoalition, geduldet durch die Populisten von Geert Wilders Partij voor de Vrijheid (Freiheitspartei PVV), wurde zur inneren Zerreißprobe. Die Umfragewerte fielen entsprechend – alles andere als das schlechteste Ergebnis in der CDA-Geschichte wäre eine Überraschung.

Für die fünfte Parlamentswahl innerhalb eines Jahrzehnts ergibt sich damit die gänzlich neue Konstellation, dass Christ- und Sozialdemokraten ihr integratives Potenzial eingebüßt haben, während die SP und die neoliberale Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) um die vorderen Plätze mitlaufen. Die Partei von Premier Mark Rutte hat bereits klargestellt, sie bürge für Haushaltsdisziplin und gedenke im nächsten Haushaltsjahr 24 Milliarden Euro einzusparen. Somit spiegelt die politische Konfrontation die Lage in den Niederlanden nach vier Jahren Euro- und Finanzkrise vorzüglich.

Euro, Euro, Euro

Wie sehr die Fragen nach einer Zukunft der Gemeinschaftswährung und der damit verbundenen sozialen Opfer alles überlagern, kann dem Umstand entnommen werden, dass ein Thema, welches die Niederlande so lange in seinem Bann hielt und manche Zerreißprobe auslöste – nämlich Zuwanderung und Integration – jetzt im Wahlkampf bestenfalls am Rande debattiert wurde.

Bei alldem bleibt ein typisches Merkmal des niederländischen Parlamentarismus bestehen: die komplexen Mehrheitsverhältnisse, die nach dem Wahltag keine prompte Koalitionsbildung versprechen. Allen Höhenflügen von Sozialisten und Neoliberalen zum Trotz könnte die kleine liberale Partei Democraten66 (D66) den Ausschlag dafür geben, welche Koalition sich durchsetzt.

Wenn es im Haager Parlament eine strikt pro-europäische Formation gibt, dann die D66, die zuallererst mit ihrem Bekenntnis zum Euro um Stimmen wirbt. Die Sozialisten geben sich distanzierter und wollen einer Politischen Union nicht um jeden Preis zustimmen. Spitzenkandidat Roemer denkt an ein Referendum, bevor „weitere Befugnisse an die Brüsseler Technokraten“ abgegeben werden. Die neoliberale VVD verlangt „nicht mehr, sondern ein funktionierendes Europa“, das ohne überflüssige Gesetze auskommt und den Niederlanden finanziell weniger abverlangt. Am radikalsten geriert sich Geert Wilders, der für einen Ausstieg aus EU und Eurozone plädiert und seit Monaten mit der Losung Keinen Cent für Griechenland! die Stimmung befeuert.

Kein Cent für die lächerliche Buße

Strittig bei fast allen Parteien sind die Stabilitätskriterien des Maastrichter Vertrages von 1992. Die Sozialdemokraten der PvdA wollen einen sehr viel flexibleren Umgang mit der Neuverschuldungsgrenze als bisher. Und Roemer nennt es „eine Idiotie, nicht nach den Umständen eines Staatsbudgets zu schauen, sondern nur nach den drei Prozent“.

Es war einer der denkwürdigsten Augenblicke seiner Wahlkampagne, als er verkündete, die „lächerliche Buße“ – sprich: die fälligen Strafgelder bei zu hoher Neuverschuldung – „nur über meine Leiche“ zu zahlen. Das hört man aus einem bisher so verlässlichen Partnerstaat der EU, dessen Wähler freilich 2005 die Europäische Verfassung beim Plebiszit mit 62 zu 38 Prozent durchfallen ließen.

Ab in die Schweiz

Nicht nur in Brüssel blickt man also mit einigem Unbehagen auf diese Wahl, auch in Berlin. Unter Ruttes Rechtsregierung standen die Niederlande treu zu Angela Merkels Austeritätskurs. Nach dem Machtwechsel in Frankreich wurden sie für Merkel noch wichtiger. Was bleibt von diesem Status, wenn eine künftige Haager Exekutive zu einem äußerst entspannten Umgang mit den Stabilitätskriterien neigt und damit auch anderen Euro-Staaten ein Beispiel gibt?

Der Sozialist Roemer hat mit seinen Aussagen viel Aufmerksamkeit gefunden – manchmal auch groteske Reaktionen. Die Wirtschaftszeitschrift Quote titelte jüngst: Stoppt die SP! Als Beilage gab es eine Fotomontage im besten Splatter-Stil. Sie zeigte einen blutverschmierten Roemer mit Kettensäge und süffisantem Grinsen. Darunter stand die Essenz einer Umfrage unter niederländischen Unternehmern: „Wird Emile Roemer Premierminister, ziehen wir in die Schweiz um“.

Tobias Müller hat zuletzt für den Alltagsteil den iranischen Studenten Yashar Khameneh porträtiert

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