So viele Geschichtsbücher

UN In Den Haag wird das Urteil gegen Radovan Karadžić erwartet, das bisher bedeutendste des Jugoslawien-Tribunals
Ausgabe 11/2016
In der Gedenkstätte Potočari bei Srebrenica
In der Gedenkstätte Potočari bei Srebrenica

Foto: Dimitar Dilkoff/AFP/Getty Images

Während dieses Prozesses hat es 497 Verhandlungstage gegeben, 565 Zeugen sind gehört und mehr als 11.000 Beweisstücke vorgelegt worden. Die Zahlen deuten auf den Stellenwert des Verfahrens gegen Radovan Karadžić vor dem UN-Jugoslawien-Tribunal (ICTY). Der Angeklagte – 1992 bis 1996 Präsident der bosnisch-serbischen Republik und zugleich Oberkommandierender der Streitkräfte dieser Entität – musste sich in elf Punkten verantworten. Ihm wurden Genozid in Srebrenica und an anderen bosnischen Orten, dazu Mord, Deportationen, Geiselnahme und ungesetzliche Angriffe auf Zivilisten vorgeworfen. Ende nächster Woche wird das Urteil erwartet.

Der vor Gericht betriebene Aufwand musste dem juristischen Erbe eines Bürgerkrieges gerecht werden. Sichtbar wurde dies Ende 2014, als die abschließenden Plädoyers gehalten wurden. Die Anklage forderte lebenslänglich, sah sie doch Karadžić als Drahtzieher des Massakers von Srebrenica im Juli 1995. Der habe zudem Sarajevo belagern lassen und sei die „treibende Kraft der ethnischen Säuberung” gewesen. Der Angeklagte räumte zwar individuelle Verbrechen bosnisch-serbischer Armisten ein, doch habe er die nie angeordnet: „Ich habe ein reines Gewissen, aber ein schweres Herz – Krieg war nicht mein Wunsch.“

Der Sündenbock

„Extrem komplex“ nennt Serge Brammertz, der belgische Chefankläger des Tribunals, den Prozess. Das Urteil wird das bislang bedeutendste des ICTY, nachdem Slobodan Milošević im März 2006 vor Ende seines Verfahrens an einem Herzinfarkt verstarb. Und das Verfahren gegen den bosnisch-serbischen Kommandanten Ratko Mladić noch weit ins Jahr 2017 hineinreicht. Was Brammertz resümiert, bezieht sich nicht allein auf Aktenberge und Aussagen. Der Karadžić-Prozess war beherrscht von Unterbrechungen und der permanenten Beschwerde des Angeklagten, ihm werde die nötige Fairness verweigert.

Der Chefankläger weist diesen Vorwurf energisch zurück. Es sei Karadžićs‘ Wunsch gewesen, sich selbst verteidigen. Dazu habe er ausreichend Gelegenheit bekommen und hunderte Zeugen befragen können. es habe zudem vor diesem Tribunal Fälle gegeben wie den von Momčilo Perišić, dem in der Berufung freigesprochenen Kommandeur der serbischen Armee. Zweifel an der Schuld des Angeklagten hätten da letztlich den Ausschlag gegeben. Im Fall Karadžić treffe dies nicht zu. Eben deshalb habe das Gericht einen erheblichen Beitrag zur Rechenschaftspflicht für Kriegsverbrechen geleistet.

Zugleich ist Brammertz Realist genug, die Fragilität zu sehen, wie sie die Nachkriegsgesellschaften Ex-Jugoslawiens bis heute prägt. Für das ICTY sei das ein durchaus prekärer Kontext. „Manche in der Region denken, das Tribunal gefährde den Frieden. Immer, wenn in Den Haag ein Urteil gefällt wird, freut sich die eine Gruppe, und die andere ist wütend.“ Unumwunden gibt Brammertz zu, die virulente Kultur des Nationalismus in den jugoslawischen Nachfolgestaaten unterschätzt zu haben. „Wie sollen wir vorankommen, solange es in Bosnien drei Geschichtsbücher gibt?“

Jugoslawien-Tribunal

Der Gerichtshof – begründet durch die UN-Resolution 827 vom 25. Mai 1993 – gehört als Sondertribunal nicht zum System der Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofes ICC, sondern verfügt über ein eigenes Statut, eigene Richter und ein eigenes Budget (pro Jahr: 150 Millionen Dollar). Verhandelt werden schwere Verbrechen, die seit 1991 während des jugoslawischen Bürgerkrieges begangen wurden, nicht aber Kriegsverbrechen der NATO, zu denen es während der Luftintervention gegen Serbien und Montenegro im Frühjahr 1999 kam.

Vor dem Tribunal wird nur gegen anwesende Angeklagte verhandelt, nicht gegen abwesende. Seit Aufnahme der ersten Verfahren Ende 1994 wurden gegen 161 Personen Anklagen erhoben, von denen 56 während verschiedener Verfahrensstufen wieder zurückgenommen wurden. An rechtsgültigen Schuldsprüchen und Verurteilungen gab es bisher 64. Spektakulärster Fall war der des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević, der im März 2006 kurz vor Ende seines Prozesses in Untersuchungshaft verstarb. Lutz Herden

Nicht zuletzt der Fall Karadžić verdeutlicht diese Realität. Auf der einen Seite stehen Opferverbände wie die „Mütter von Srebrenica“, die auch zur Urteilsverkündung wieder in Den Haag sein werden. Deren Sprecherin Munira Subašić erwartet, „dass der Verbrecher Karadžić lebenslänglich bekommt, und er nicht nur des Genozids von Srebrenica schuldig befunden wird, sondern auch des Völkermords anderswo in Bosnien“.

Andererseits steht in Belgrad der Menschenrechtsaktivistin Anita Mitić ein Prozess bevor, weil sie im Juli 2015 zum 20-jährigen Jubiläum des Pogroms von Srebrenica im Internet zu einer Gedenkfeier für die Opfer aufgerufen hatte. Sie soll gegen das Versammlungsverbot verstoßen haben, mit dem das Innenministerium eigentlich Meetings rechter Gruppierungen verhindern wollte. Bei einer Debatte zum Thema Srebrenica bilanzierte kürzlich Nemanja Stjepanović, Mitglied des Belgrader Humanitarian Law Center: „Fast 21 Jahre nach dem Genozid sind dank vieler Zeugenaussagen vor Gericht und vorliegender Beweise alle Fakten bekannt gemacht, doch viele Serben wissen das entweder nicht oder wollen es nicht wissen.“

Seltsam antiquiert

Bei der Haager Rechtsprechung bleiben die diffusen Stimmungslagen in Ex-Jugoslawien natürlich unbeachtet. Genau dies bemängelt Nena Tromp-Vrkić, in Kroatien aufgewachsene Lektorin für Holocaust- und Genozidstudien an der Universität Amsterdam. Als Mitglied der Recherche-Abteilung am Jugoslawien-Tribunal sammelte sie einst Beweismaterial gegen Slobodan Milošević. In ihrer Doktorarbeit zum Thema hat sie diesem direkte Verantwortung für Srebrenica zugewiesen. Zugleich warnt sie vor einer „Über-Verfolgung“ einzelner Angeklagter: „Kein politischer Führer kann jahrelang verantwortlich für Kapitalverbrechen sein, ohne dass staatliche Institutionen eine Rolle spielen. Eine solche Reduktion politischer Komplexität führt leicht zur Sündenbock-Fixierung. Dies gilt absolut für den Fall Karadžić.“

Wer den fünfjährigen Prozess in Den Haag verfolgte, wurde in der Tat immer wieder auf seine politischen Hintergründen zurückgeworfen. Karadžićs Narrativ vom kleinen, bedrohten serbischen Volk, dessen heroischer Verteidigung er sich verschrieben habe, war dabei omnipräsent. Gab es das Leitmotiv existenzieller Selbstbehauptung nicht bei allen Konfliktparteien in der Spätphase Jugoslawiens und der fatalen Dynamik seiner ethno-nationalistischen Zentrifugen?

Der Angeklagte erläuterte diese Umstände als distinguierter Intellektueller, der vom Richter mit „Dr. Karadžić“ angeredet wurde, sich gewählt ausdrückte und seine randlose Brille zurechtschob. Er wollte der Gegenentwurf zum grobschlächtigen Polterer Ratko Mladić sein. Und er war es. Als sich beide zur Zeugenaussage des Generals vor Gericht trafen, war das Good-Cop-Bad-Cop-Modell des bosnisch-serbischen Nationalismus bedient, aber der gerichtlichen Wahrheitsfindung kaum gedient.

„Es gibt keinen Disput darüber, dass 1992 in vielen Ortschaften Bosnien-Herzegowinas Menschen vertrieben wurden“, sagt der Anwalt Peter Robinson, der Karadžić während des Verfahrens in Den Haag beriet und begleitete. „Aber bei Kriminalfällen geht es um Absichten. Die Frage ist also: War es beabsichtigt, die bosnischen Muslime als ethnische Gruppe zu zerstören und vom Erdboden zu tilgen?“ Was seinen Klienten anbelangt, nuanciert Robinson die Einschätzung, zumal beim Thema Srebrenica. „Sicherlich war er beteiligt an der Entscheidung, diesen Ort einzunehmen. Aber dass Gefangene exekutiert werden sollten, war etwas, in das er absolut nicht involviert war – und das er nicht wollte.“

Gut eine Woche vor dem Urteil ist Robinson bezüglich der Aussichten des Angeklagten nicht sonderlich zuversichtlich. „Ich denke, das institutionelle Interesse, ihn verurteilt zu sehen, ist zu groß. Der Gerichtshof wurde gegründet, um diejenigen, die während des Krieges im früheren Jugoslawien in höchsten Positionen waren, zur Verantwortung zu ziehen. Da scheint es einfach unvorstellbar, dass sie ihn nicht verurteilen. Das würde als ein riesiges Versagen gedeutet.“ Radovan Karadžić dagegen, sagt Robinson, sei optimistisch. „Er denkt, wenn dies ein richtiger Gerichtshof ist, müsste der seine Unschuld erkennen.“

In diesem Licht sieht Robinson auch Karadžićs‘ Entscheidung, sich selbst zu verteidigen. „Sein Ziel war es, seine Version der Geschichte zu erzählen. Und das konnte er besser, wenn er dazu an jedem Tag des Verfahrens Gelegenheit hatte, statt nur für ein paar Wochen während der Zeugenaussagen. Wenn man also sieht, was in seinem Fall möglich war, und worin seine Ziele bestanden, war es eine vernünftige Entscheidung. Kein Anwalt hätte ihm hier einen Freispruch verschaffen können.“ Sicher ist sich Robinson unterdessen, dass es im Fall Karadžić wie in den meisten vor dem Jugoslawien-Tribunal Berufung geben wird. „Entweder seitens der Verteidigung, der Anklage oder es wollen beide.”

Wie auch immer das Urteil ausfallen wird, ist doch eines unverkennbar: Angesichts der aktuellen Weltlage wirkt das, was man in Den Haag verhandelt, seltsam antiquiert. Als der Gerichtshof in den frühen 90er Jahren berufen wurde, diskutierten Philosophen und Politologen ernsthaft über ein „Ende der Geschichte“ und definierten die liberale Demokratie des Westens als künftige globale Staatsform. Wenige waren bereit, in diesem Triumphgefühl den Jugoslawien-Krieg als Vorboten von Konflikten wahrnehmen, die sich auf Europa zubewegten. Heute lächelt Chefankläger Brammertz ein wenig gequält, wenn er von der Hoffnung spricht, „die Welt könnte durch internationale Justiz sicherer werden“. Die zur Urteilsverkündung zahlreich erwarteten internationalen Medien sind nur ein ferner Widerschein dieser Hoffnung.

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