Nach dem Erdrutschsieg der BoerBurgerBeweging (Bauern-Bürger-Bewegung/BBB) bei den Provinzwahlen Mitte März ist die niederländische „Stickstoff-Krise“ in aller Munde. Seit Jahren schon versucht die Regierung, die enormen Emissionen von Stickstoffoxiden und Ammoniak in der Landwirtschaft zu reduzieren. Die Ankündigung, bis zu 3.000 besonders stark verschmutzende Agrarbetriebe aufzukaufen oder notfalls zu enteignen, führte vergangenen Sommer zu wochenlangen Protesten, deren wirksamste Waffe Straßenblockaden waren. Es ist die BBB, welche den Absichten der Regierung als „Stimme der Provinz“ entschieden Paroli bietet. „Keine Enteignungen“, lautet eine ihrer Kernforderungen. Auch das Ziel, die Stickstoff-Emissionen bis 2030 zu hal
halbieren, will die BBB um fünf Jahre aufgeschoben wissen.Nüchtern und von außen betrachtet stellt sich bei diesem Konflikt eine Frage: Wie ist es möglich, dass ein denkbares Ende für fünf Prozent der gut 50.000 Agrarbetriebe ein ganzes Land von knapp 18 Millionen Menschen derart beschäftigt, dass der Regierung eine geradezu historische Abreibung verpasst wird? Das Mitte-rechts-Kabinett von Premierminister Mark Rutte (Volkspartei für Freiheit und Demokratie/VVD) erlitt bei der jüngsten Abstimmung, die sich mit einer gleichzeitigen Landtagswahl in allen deutschen Bundesländern vergleichen lässt, so massive Verluste, dass dieser Tage ihr Fortbestehen infrage steht.Die Antwort ist naheliegend, es geht um mehr als „nur“ Stickstoff, wie Caroline van der Plas, Gründerin und Galionsfigur der BBB, in der Wahlnacht stets von Neuem beteuerte. Was logisch ist. Wegen der Emissionen, die pro Hektar um das knapp Vierfache über dem EU-Durchschnitt liegen, stehen in den Niederlanden Bauprojekte für die Infrastruktur und das Wohnen still. Der Bausektor trägt ebenso wie auch Industrie oder Luftfahrt zum Stickstoff-Ausstoß einiges bei. Allerdings fehlen gegenwärtig 300.000 Wohnungen, und die auf dem freien Markt verbliebenen erweisen sich für immer mehr Menschen als unerschwinglich.Politik, die Familien an die Existenz gehtWas van der Plas sagt, zielt freilich auf mehr als Schadstoffbilanzen. Die Stickstoff-Krise, die Existenznot von Agrarbetrieben und die Notwendigkeit des Klimaschutzes sind nicht allein für die fallende Stimmungskurve einer Gesellschaft zuständig. Mindestens ebenso trifft das auf die „Kindergeld-Affäre“ zu, bei der Tausende von Leistungsempfängern – auffallend häufig handelte es sich um Migranten – wegen nicht gerechtfertigter Betrugsvorwürfe zu horrenden Rückzahlungen vergattert wurden. Auch das konnte Familien gehörig an die Existenz gehen. Diese jahrelange Praxis ist bisher weder aufgearbeitet, noch sind die unschuldigen Opfer wie versprochen entschädigt worden.Ein anderes Beispiel ist der Umgang mit den wegen der Gasgewinnung ausgelösten Erdbeben in der nördlichen Provinz Groningen. Ende Februar bescheinigte eine parlamentarische Untersuchungskommission dem niederländischen Staat, die Interessen der Bewohner jahrzehntelang systematisch vernachlässigt und deren Sicherheit maximalem Profitstreben geopfert zu haben.Regierungschef Rutte, in dessen zwölfjähriger Amtszeit sich das vorwiegend abgespielt hat, wird vorgeworfen, er habe „Ernst und Dringlichkeit der Situation in Groningen lange Zeit schwer unterschätzt“. Die unter diesen Umständen vertiefte Kluft zwischen den Bürgern und Den Haag ist seit der populistischen Revolte des Soziologen Pim Fortuyn vor gut 20 Jahren ein relevanter Faktor niederländischer Politik. Speziell die letzten beiden der vier Rutte-Kabinette haben den Vertrauensverlust beschleunigt. Der Premier selbst sorgt mit einem kreativen Verhältnis zur Wahrheit und der häufigen Aussage, er habe „keine aktive Erinnerung“, für ein geflügeltes Wort und bedient die Legitimationskrise seines Kabinetts.Landesweite Solidarität mit den protestierenden LandwirtenDass eine Regierungskoalition wegen der Kindergeld-Affäre zurücktrat, um nach Neuwahlen in der gleichen Zusammensetzung zurückzukehren, hat viele Menschen in dem Gefühl bestätigt, ihre Meinung sei so unbedeutend wie ihre Wählerstimme. Diesen Eindruck trifft man außerhalb der Metropolen seit Jahren an, nicht zuletzt in der Erdbebenzone von Groningen. Die Ansicht, in Den Haag und Amsterdam interessiere man sich nicht für die Probleme dieser Region, ist weithin Konsens.All das liefert eine Erklärung dafür, weshalb während der Bauerndemonstrationen im Sommer 2022 überall im Land die umgedrehte Nationalflagge als Zeichen des Protests auftauchte und sich nach Umfragen gut die Hälfte der Bevölkerung mit den Landwirten solidarisierte. Auch der Wahlerfolg der BBB – damals schon die lauteste Stimme der Bewegung – resultiert aus dieser Gemengelage. „Bauern sind harte Arbeiter, die fest anpacken. Das gilt für viele Niederländer auch“, so Caroline van der Plas, „für Menschen in normalen Vierteln, normalen Dörfern, die das Gefühl haben, aus einem Elfenbeinturm heraus regiert zu werden. Die Bauern verkörpern den daraus erwachsenden Unmut.“Die verbreitete Skepsis gegenüber einem resoluten Klimaschutz wurde gerade im rechten Spektrum unbestritten zum Nährboden des BBB-Aufstiegs. Als Sympathisanten kamen Wähler in Betracht, die zuvor konservativ und rechtspopulistisch abgestimmt hatten. Asylpolitisch gibt sich die BBB zwar streng, allerdings ohne auf die rabiate Rhetorik eines Geert Wilders (Partij voor de Vrijheid) oder auf die völkischen Altright-Ausfälle eines Thierry Baudet (Forum voor Democratie) zurückzugreifen. „Wenn man schaut, wie wir veranlagt sind, liegen wir ein bisschen rechts von der Mitte. Im sozialen Bereich aber eher links“, so van der Plas, bisher einzige Parlamentsabgeordnete der BoerBurgerBeweging. Deren Erfolg ist letztlich ein Beleg für die Krise des niederländischen Neoliberalismus. Dass eine Reaktion darauf ein volksnaher, mitfühlender Konservatismus ist, entspricht der politischen Kultur. Die Stickstoff-Krise ist in dieser Hinsicht sehr viel mehr als ein Symptom.