Der Ruf aus Kiew nach mehr Ausrüstung mit schwererer Bewaffnung traf Mitte April in Brüssel und Den Haag auf eindeutig offene Ohren. Aus Belgien wurden unter anderem lenkbare Panzerabwehrraketen in Aussicht gestellt. „Kein Land kann unter den heutigen Umständen sagen, dass es genug getan hat“, so Premier Alexander De Croo, dessen Sieben-Parteien-Koalition zu diesem Zeitpunkt bereits Material im Wert von knapp 77 Millionen Euro an die Ukraine verschickt hatte. Parallel dazu gab der niederländische Amtskollege Mark Rutte bekannt, sein Land werde an schwerem Material vorrangig gepanzerte Fahrzeuge zur Verfügung stellen. Gemeinsam mit den NATO-Verbündeten sei noch mehr Transfer ins Auge gefasst. Und Verteidigungsministerin Kajsa Ollongren – sie vertritt im Kabinett die linksliberalen Democraten 66 (D66) – listete umgehend auf: Für 65 Millionen Euro seien bislang Ausrüstung und Material an die Ukraine gegangen.
Auf der demonstrativen Einmütigkeit beider Staaten lastet die Sorge, mit allzu massiver Waffenhilfe auf eine Eskalation der Lage in der Ukraine hinzuwirken. Es fällt auf, dass abweichende Positionen im parlamentarischen Diskurs wenig bis gar nicht vertreten sind. In Belgien waren die grünen Regierungsparteien Ecolo (frankofon) und Groen (flämisch) zu Beginn des russischen Einmarschs skeptisch. Inzwischen ist nur die linke Oppositionspartei PTB/pvda gegen eine Unterstützung mit schweren Waffen. Wird Protest einmal laut, dann beschränkt auf außerparlamentarische Akteure wie die Friedensaktivisten von Vrede vzw. Roger Housen, Ex- Oberst der belgischen Armee und im medialen Diskurs zur Ukraine-Invasion eine viel zitierte Stimme, sieht dafür zwei Gründe. „Zum einen die Grausamkeiten in Butscha und an anderen Orten, die in der Politik die Reaktion hervorriefen: ‚Wir müssen diesem Land und seiner Bevölkerung helfen.‘ Hinzu kommt, dass man in Brüssel bemerkte, dass die Ukraine standhält und Russland das Ziel Kiew aufgegeben hat. Das führt zu der Auffassung, westliches militärisches Equipment könne den Unterschied machen. Dadurch entstand schnell ein Konsens über Parteigrenzen hinweg.“
Anders als in Belgien, wo Sozialdemokraten und Grüne Teil der Koalition sind, ist in den Niederlanden keine explizit linke Partei an der Regierung beteiligt. Dem tonangebenden Konsens bezüglich der Lieferung schwerer Waffen tut das keinen Abbruch. Ende März schwenkte auch die Socialistische Partij (SP) um, die lange auf Diplomatie gesetzt hatte, allerdings sind längst nicht alle Parteimitglieder von diesem Kurswechsel überzeugt. Die frühere SP-Abgeordnete Sadet Karabulut warnt in ihrer Kolumne für die Wochenzeitung De Groene Amsterdammer vor einem „Wettlauf der Waffen“, der zu noch mehr Toten führe. „Die immense Bewaffnung der Ukraine und bislang ungekannte Verteidigungsinvestitionen in Europa bereiten uns nicht auf Frieden und Sicherheit vor, wofür die EU einst gegründet wurde. Ein Ende des Kriegs wird erschwert.“
Extreme Rechte in den Niederlanden unterstützt Wladimir Putin
Karabulut kritisiert, man helfe der Ukraine nicht, indem man sie in die Lage bringe, „sich totzukämpfen“. Außerdem prangert sie einen einseitigen Diskurs an, bei dem Bewaffnung und Militarisierung dominieren. „Wer es sich traut, diese Strategie infrage zu stellen, wird schnell schwach oder naiv genannt.“ Dass die Niederlande ein Land mit pazifistischer Tradition sind – man denke an den Widerstand gegen NATO-Mittelstreckenraketen in den 1980er Jahren –, spielt derzeit kaum eine Rolle. „Die Friedensbewegung und die Idee, Unrecht anders als mit Waffen zu bekämpfen, haben nach 1990 sehr gelitten“, so Chris Geerse von der Organisation Vredesbeweging Pais, die als eine der ersten Demonstrationen gegen den Ukraine-Krieg organisierte.
Dass der Abschuss einer Malaysia-Airlines-Maschine (MH17) am 17. Juli 2014 über der Ostukraine, als alle 298, vorwiegend niederländischen Insassen ums Leben kamen, gegen Russland gerichtete Ressentiments angefacht hat, ist kein Geheimnis. Zihni Özdil, früherer Parlamentarier von GroenLinks und heute Kolumnist der konservativen Zeitschrift Elsevier, warnte schon zu Jahresbeginn vor einer fatalen Eskalationsspirale, sollte es zu einem Krieg in der Ukraine kommen. Er bemängelte eine wenig differenzierte Debatte zur NATO-Osterweiterung: „Dass Russland die Ukraine als rote Linie sah, darüber sind sich Russlandexperten einig. Das macht sie noch nicht zu Putin-Anhängern.“
Özdil kritisiert zugleich, dass in den Niederlanden russische Oligarchen mit windigen Steuerkonstruktionen zur Geldanlage gelockt und selbst jetzt vergleichsweise wenige Guthaben eingefroren wurden. Ihn enttäusche die Position von Parteien wie GroenLinks: Weil die extreme Rechte hierzulande Putin unterstützt, wurde die Linke zum Kriegstreiber. Es gelte die Formel, weil wir gegen Thierry Baudet, den Chef des rechtsextremen Forums voor Democratie, eintreten, sind wir nun für Bewaffnung.
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