Der Osten, eine Krabbelbox

Hoffen auf eine neue Generation Etliche Gestaltungschancen für Ostdeutschland nach der Wende sind im Konsumrausch untergegangen. Dass daran nicht nur den Westen schuld ist, wollen die Ostdeutschen nicht wahr haben

Fast 15 Jahre ist es her. Es war mein erster Ausflug in die wahre Welt des deutschen Westens, November 1989. Einen gewaltigen Autostau später, am Ziel der Reise, habe ich damals erfahren, dass Kuchenbasare in einer Schule nicht nur zur Unterstützung Daniel Ortegas in Nicaragua dienen können, sondern auch zur Zusammenführung Ost/West. Unter dem Scheibenwischer unseres Ladas klebte die freundliche Einladung zum Kaffee im Max-Planck-Gymnasium. Die damit verbundene Erholung und der erste willkommenheißende physische Kontakt waren bitter nötig, denn ich hatte eben noch eine ganz andere Erfahrung mit der freien Demokratie gemacht, einen vermummten Demonstrationszug der Antifa im damals stark politisierten Göttingen.

An diese Begebenheit und die Umstände der ersten Grenzüberquerung muss ich in regelmäßigen Abständen denken, wenn ich heute die Gegend durchfahre, die die Scheidelinie zweier deutscher Staaten war. Damals herrschte Aufbruchstimmung, das Neue war unendlich weit, die Türen standen offen. Selbst mir Elfjährigem blieb das nicht verborgen.

Im grünen Grenzsaum wächst seitdem stetig eine Gras- und Gebüschnarbe, sind die Birken jedes Jahr einen Meter höher und das Spiel, den früheren Todesstreifen zu orten, wird immer schwieriger. Unmissverständlich stimmt es mich aber bei jeder Reise auf den Mentalitätswechsel ein, der mir zwischen Niedersachsen und Thüringen bevorsteht und der sich weit veränderungsresistenter zeigt als die Reparaturleistungen der Natur.

Noch bis vor kurzem stand ich genau dieser Beharrlichkeit der Angegliederten, diesem inneren und äußeren Abgrenzen wohlwollend, ja sentimental gegenüber. War es doch Biografie bildend oder versicherte mich zumindest der eigenen Herkunft. Sein Subtext lautete: Wir sind anders und darin sind wir uns einig! Welcome home im Osten!

Veränderte Wahrnehmung

In den ersten Jahren des Studiums in Göttingen entwickelte sich in mir eine eigenartige Ambivalenz im Umgang mit der eigenen Herkunft. Einerseits ließ sich ein gewisses Belächeltwerden beobachten; dabei galt es, den Typus Quotenossi hinter sich zu lassen und manches oberflächlich historisch geprägte Gespräch in andere Bahnen zu lenken. Es macht wenig Spaß, über die Plastikkarosserie eines Trabants aus Betroffenheitsperspektive zu reden. Ja, Bananen gab es mitunter zu kaufen und ins Flugzeug gestiegen bin ich auch schon mal! Andererseits konnte sich die Geburt jenseits der Grenze als interessanter Biografiebaustein und damit als Behauptungsgrundlage gegenüber der Castorprotest- oder Barbourjackensozialisation der Mitstudenten erweisen. Generation Golf trifft Zonenkinder.

Das häufige Kokettieren oder Understatement, zur zweiten Klasse dieser Republik zu gehören, drohte sich jedoch bereits einzuschleifen. Ich konnte, das war sozusagen das diskursive Abfallprodukt dieser Haltung, mein eigenes Dasein mit der spannenden Vermittlerrolle zwischen Ost und West aufwerten, also das Politische im Privaten praktizieren. Umstände erklären, Verständnis erzeugen. Widersprüche behaupten. Ja, Fernseher gab es auch, mein Onkel war nicht bei der Stasi und die PDS kann man ruhig wählen. Das Niveau der Diskussionen nahm zu, je länger die Wende zurücklag. Debatten zum Solidarzuschlag brauchte ich nicht zu führen, Steuern zahlen sowieso nur die Eltern, hüben wie drüben.

Mitunter war es sogar befruchtend und Horizont erweitend, bekunden zu können, dass ich aus zwei politischen Systemen einen inneren Kompass gebastelt hatte. Dieser Mehrwert an Lebenserfahrung, sofern sich das mit 25 sagen lässt, ist eine angemessene Kompensation für die Mischexistenz Ost-West.

"Zuhause" aber, um diese nebulöse Ortszuschreibung als Mischung aus Heimat und Synonym für die fünf neuen Länder allgemein zu verwenden, kultivierte sich beharrlich die Partikulargesellschaft Ost. Zu diesem soziokulturellen Phänomen muss jeder Ost- wie West-Emigrierte zwangsläufig Stellung beziehen. Leicht gerät der Blick dabei zu wohlwollend, im schlimmsten Fall nimmt er mitleidige Züge an. Für mich war vor etwa einem dreiviertel Jahr das Maß dann voll. Das Gefühl überkam mich auf einer Zugfahrt Richtung Heimat, es war kurz vor Weihnachten, und ich hatte vom lamentierenden Blick zurück, vom moralischen Masochismus des Ostens schlicht die Schnauze voll. Von einer Geisteshaltung, deren einzige Leistung in der Verweigerung zu sehen ist, die die Gesellschaft als nicht form- und gestaltbar begreift und deren Passivität von vielen auch noch als sinngebend missverstanden wird.

Ostalgie als Verdrängung ostdeutscher Gegenwart

Die Ursachen für diese Geisteshaltung liegen meines Erachtens zum Großteil im Inneren des Ostens selbst, in der fehlenden Auseinandersetzung mit der eigenen jüngeren Geschichte. Die kritische Retrospektive der Wendezeit samt Eingeständnis versäumter Gestaltungsansprüche findet nicht statt. Diese Lücke ließ sich füllen mit dem gekränkten Blick gen Westen und zuletzt noch vortrefflicher verplomben mit einlullender Ostalgiehysterie. Deren mediale Vermarktung gipfelnd in zahlreichen Fernsehshows zur prime time, hat diesen verschrobenen Authentizitätsanspruch paradoxerweise noch unterstrichen. Paradigmatisch war dabei die geduldete oder vielfach freundlich unwidersprochen hingenommene öffentliche Fremdverhandlung ostdeutscher Phänomene - wohlgemerkt vergangener Phänomene und nicht etwa der dramatischen sozialen Realität der Gegenwart. Als Identifikationsfiguren durften auftreten: Kati Witt, Axel Schulz und Achim Menzel. Allesamt Personen, die schon vor 1989 privilegiert waren und jetzt keineswegs materiell auf der Kippe stehen. Es hatte dabei einen nicht zu unterschätzenden versöhnenden Effekt, dass nach Jana Hensels FDJler-Generation nun auch für die 40 bis 70-Jährigen der äußerliche Druck zum Biografie-Revanchismus, und damit das unbestimmte Gefühl, die eigene Vorwendegeschichte nicht werturteilsfrei erzählen zu können, gemindert wurde. Das war gut für die stillen Opportunisten, die ihr Heil im Datschenbau suchten, ebenso wie spätgestartete Bürgerrechtsbewegte - die breite Masse also. Erstmals ließ sich im Rahmen dieser Ostalgie-Shows das Bedürfnis des Ostlers stillen, sein öffentlich vermitteltes Schicksal stimmig mit der Eigenwahrnehmung zu wissen. Endlich konnte man die Genugtuung erfahren, das Erlebte, auch wenn es nur über die Projektion auf Stars und Sternchen in Erscheinung trat, politisch schuldfrei kommentiert zu wissen. Ja, die Darstellung ostdeutschen Befindens ständig zu prüfen, ist zum seelischen Hauptarbeitsfeld im Osten geworden - anstatt genau diese Darstellung selbstbewusst zu beeinflussen oder notwendigerweise zu korrigieren. Es ist eine passive Beobachtungs-Haltung, die sich nach der Wende im Umgang mit dem Westen herausgebildet hat. Wie ein bockiges Kind registriert der Osten alle Differenzen und duldet sie gekränkt, und wertet jede vermeintliche Demütigung als Bestätigung eines unmöglichen deutsch-deutschen Dialogs. An die Stelle der Ideologie des Staatssozialismus trat die Idiosynkrasie der sich selbst Deklassierenden.

Der Ostdeutsche als kollektiver Singular hat es sich nicht, wie oft unterstellt, seit 1989 in einer Sofaecke der Geschichte bequem gemacht, er hat vielmehr die infantile Krabbelbox mit Gitterstäben vorgezogen.

Ob die neu aufgelebten Montagsdemonstrationen dabei eine Ausnahme oder einen Aufbruch bedeuten, wird sich erst in ihrem weiteren Verlauf zeigen. Sichtbar ist jedoch, dass sie sich einzig an den Staat wenden und dass sich der durchaus legitime Protest gegen Hartz IV und Agenda 2010 auf soziale und Arbeitsmarktaspekte beschränkt. Zu befürchten ist, dass neue Ohnmachtsgefühle entstehen und dass die Demonstranten frustrierter auseinander gehen als sie es zuvor schon waren, wenn die jetzige oder die Folgeregierung an ihrer Politik der sozialen Spaltung festhält.

Versäumnisse im Umgang mit den Chancen der Wende

Woraus aber hätte nach 1989 eine gesamtostdeutsche Identität entstehen können? Allzu schnell war ja die Umwidmung der Losung "Wir sind das Volk" zum "Wir sind ein Volk" vollzogen; wir wollen nichts sehnlicher als das Trabistigma in einem beflügelnden Kadett-Ritt nach Phantasialand auflösen! Dieser Drang nach materieller Kompensation schloss das kurze Zeitfenster, in dem zuvorderst der Ruf nach demokratischen Grundwerten und persönlicher Freiheit eine gestaltende ostdeutsche Identität ermöglicht hätte. Das Gemeinschaftsgefühl aber, das daraufhin entstand und bis heute prägend ist, speist sich aus einem diffusen Nichtverstandenwerden-Wollen durch den Westen und der Verbitterung darüber, dass die ökonomische Angleichung nur in Teilen stattgefunden hat. War das Lebensmotto zu Beginn die angestrebte Kopie westdeutschen Lifestyles, zeigte sich bald, dass eine doppelte Buchführung der eigenen Biografie nur bedingt durchzuhalten ist. In diesem Zusammenhang ist die Debatte, was konstruktiv an eigenen Erfahrungen, Werten und Errungenschaften in ein reformbedürftiges Land eingebracht werden könnte, schnell erstickt und vor allem nie in politische Willensbildung umgeformt worden. Freie Kita-Plätze, Erhalt der SERO-Sammelstellen und ein gelegentliches Aufbäumen gegen die drohende Abschaffung des DDR-Sandmännchens bilden in etwa den Kanon.

Und hier hat der ostalgische Blick zurück seinen blinden Fleck: Die Auseinandersetzung mit der Umbruchssituation von ´89 und die damit einhergehenden Fehlentscheidungen, also die bittere Pille des teilweisen Selbstverschuldens, will man nicht schlucken. Man hat nicht wirklich verhandelt, wie der Weg nach Westen aussehen soll und wie man dabei selbstbewusst agieren kann, um eine bloße Angliederung des Ostens an die BRD und deren status quo zu vermeiden.

Die Einheit galt vielen Ostlern nicht als historisch zwingend, als Wert an sich, sondern als Vehikel zur Konsumangleichung. Die eigene politische Akzentuierung haben sie mit der ersten freien Wahl schnell an eine Bürgerrechtlerelite delegiert. Schon hier zeigte sich eine erste Unmündigkeit, ins gesellschaftliche und politische Leben nach der Wende selbstbewusst einzugreifen. Einen gestalterischen Anspruch des Volkes gab es kaum noch. Das Pathos freier Wahlen wich dem Aus-Wählen und Wühlen in einer bis dato schmerzlich entbehrten Produktpalette.

An die Stelle der Selbstverortung und des nötigen Aufbruchs in die zivile Bürgergesellschaft trat geistige Kleingärtnerei im Experimentierfeld der Umbruchssituation, der Rückzug in die eigene Parzelle. Der offene und öffentliche Raum zwischen staatlicher Institution und jenem familiär Privaten ist zur Leerstelle geworden. Wer eine Mentalitätsgeschichte des Ostens schreiben wollte, sollte nicht vergessen , wie zeitresistent und psychologisch tief prägend für die Generation der DDR-Sozialisierten die Konditionierung des Typus "Anpassung an die Verhältnisse" war. Den Vorsprung, den der Soziologe Wolfgang Engler in seinem Buch Die Ostdeutschen als Avantgarde dem Osten als Dividende des Transformationsprozesses voraussagt, kann man kaum entdecken. Engler schildert eine Beweglichkeit im Umgang mit der eigenen Biografie und Lebensplanung, vor allem in Bezug auf Anforderungen und Zwänge des Arbeitsmarktes, Passivität und Anpassung. Was sich aber tatsächlich beobachten lässt, ist stilles Dulden des eigenen Schicksals. Dazu der Journalist Jens Bisky im Merkur: Die Duldungsstarre ist "das eiserne Gehäuse eines Kollektivgeschicks, jene Kräfte bannend, die eine Besserung der ostdeutschen Lage herbeiführen könnten. (...) vorhandene Interessengegensätze werden zugunsten ostdeutschen Gruppengefühls beiseite geschoben."

Scheitern als Wiederholungszwang?

Doch wie sieht die Perspektive jenseits aller realistischen Beschreibungen mit dem Kernszenario "Vergreist, verarmt, verblödet" aus? Heute noch sitzt ein Großteil der ehemaligen Bürgerrechtler resigniert am Tresen, mit eigenen Unternehmungen die Einbrüche auf dünnen Kapitaldecken hinter sich, und leckt seine Wunden. Doch irgendwann werden auch Gescheiterte zu Berufsrentnern und eine jüngere Generation rückt nach. Da das Versinken im Jammertal bis auf weiteres die Metakommunikation des Ostens zu sein scheint, lautet die spannende Frage, ob sich intergenerationelle Bruchlinien auftun werden. Können sich die Jüngeren zumindest gegen dauerhaftes Jammern abgrenzen oder werden sie es übernehmen? In kaum einer Gesellschaft werden Kollektiverlebnisse - wie eben auch das Scheitern - so beharrlich ausgetauscht wie in der Ex-DDR, selbst von denen, die heute recht jung sind und den Blick köhlerhaft in die Zukunft richten könnten. Das Ende einer Identifikation mit den Eltern geschieht, psychodynamisch gesprochen, notwendigerweise im Konflikt. Und nach diesem muss sich zeigen, ob auch in shrinking cities eine tragfähige Zivilgesellschaft leben kann, ohne dass Berlin Prenzlauer Berg und Leipzig Connewitz und Dresden Neustadt zum flächendeckenden Experimentierbiotop für den gesamten Osten werden.

Vor gar nicht allzu langer Zeit habe ich in einem persönlicheren Kontext noch schwarzmalend und pauschal den Zeigefinger gen Westen erhoben: Aufgepasst, dass durch die manchmal ignorante Arroganz gegenüber dem Osten kein kollektiver Komplex gezüchtet wird, der dann als selffullfilling prophecy quasi genetisch wird und zu jedem Ostneugeborenen dazugehört wie der Urschrei nach Spreewaldgurken. Eine Korrektur, liebe alternde Ostgeneration sei erlaubt: Gesteht euren Nachkommen zu, dass es besser kommen kann!

Tobias Nolte, 1978 in Sangerhausen geboren, studiert in Göttingen Medizin. Im September 2003 war er Praktikant beim Freitag.


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