Ganz pur

Nicht Event, sondern Ereignis Der Literaturherbst in Göttingen

Jedes Jahr im Oktober wird die Universitätsstadt Göttingen zum literarischen Paralleleuniversum. Strategisch datiert, in Überlappung mit der Frankfurter Buchmesse, lassen sich immer auch Schwergewichte zum Göttinger Literaturherbst lotsen. Die 33 Veranstaltungen, auf zehn Tage verteilt, sind ein Panoptikum deutscher und internationaler Gegenwartsliteratur und ein wichtiger Impuls für die städtische Kulturszene, die sich vom eingefrorenen Blick Richtung Berlin befreit hat. Befreit vom Zwang, den Apologeten in Sachen Popliteratur spielen zu wollen. Es gab Zeiten, da wurden im Jungen Theater regelrechte Mammut-Lesungen von all denen zelebriert, die sich im inner circle der jüngeren Popliteraten und ihres Dunstkreises wähnten. Ob Popliteratur ihre Qualitätsschuld schon mit bloßer Archivierung bundesdeutschen Sättigungsgefühls und der Beschreibung immer schwieriger einzukassierender Distinktionsgewinne erbrachte, hat man dort nicht diskutiert. Was zählte, war das Event. Dessen substanzieller Offenbarungseid zeigte sich, als die kulturindustrielle Selbstverwertungskette "Popliterat schreibt Poproman, schreibt Poptheater, rezensiert Kollegen und liest schlussendlich seine Handyrechnung vor" gänzlich von der Lesebühne auf die Tanzfläche verlagert wurde. Wenn etwa Moritz von Uslar mit Rainald Goetz bei den After-Show-Parties zu Nirvanas Smells like teen spirit den Boden des Theaterfoyers Maß nahm. Das war hautnah, zugegeben, bisweilen auch authentisch, aber nicht mehr Literatur.

Ähnlich frei wie die Göttinger Szene nun von diesem Hipness-Diktat und Imitationszwang, so ist der Literaturherbst frei von Überwachsungen der Buchmessen. Kein Lizengehöker, keine Verlagsempfänge, keine en passant-Zuhörer. Die Literatur stand - endlich wieder - im Mittelpunkt, und von ihr unzertrennlich das Zusammentreffen von Autor/in und Leser/in, diese von Lesung zu Lesung sich sparsam neu inszenierende Begegnung. Sprach der Veranstalter noch des Öfteren davon, eine "gute Show hinlegen" zu müssen und streichelte mit dem Vermerk auf gestiegene Kartenzahlen mehr die Sponsorenseelen des "Lesefestivals auf Wachstumskurs", so belehrten ihn seine lesenden Gäste, dass sich im Puristischen der Weg zum Publikum bahnt. Tisch, Buch, Wasserglas!

Lediglich T.C. Boyle stimmte ins Show-element ein, die Lesung war als Performance, das Buch und seine Wirkung nah an den Leser herankonzipiert. Ein Gag jagte den anderen und Boyle war weit weg von seinem eigenen Text. Dass es anders gehen und gelingen kann, zeigte Benjamin Lebert. Schüchtern im gesamten Habitus gewann er erst die Fassung und damit seine Zuhörer, als er zu lesen begann. "Entschuldigt, dass ich so lange die Textstellen suche", überbrückte er seine Stirn streichend die zwei, drei Sekunden zwischen zwei Abschnitten. "Ich hoffe, ihr könnt noch". Man kann, und ist doch einigermaßen gefesselt davon, wie der 21-Jährige schreibt und vielmehr, wie er liest. Vorbei sind schlagartig alle Unsicherheiten.

Mit gleicher Perfektion und glanzvoller Dramatik tritt Judith Hermann auf. Gereift an der Maschinerie des Literaturbetriebs und nach regenerierender Abstinenz gesteht sie, ihren Figuren im zweiten Erzählband mehr Raum gegeben zu haben. Und so wie diese plastischer werden, gönnt sich auch die Autorin mehr Platz, mehr Humor und Gelassenheit. Das Theater ist restlos voll und Judith Hermann macht erlebbar, was Literatur kann - kaum jemand berührt mehr seine Stuhllehne, sondern sitzt lauschend nach vorn gebeugt, um ihr so nah wie möglich zu sein. Wo Komik und Witz der Figuren noch jungfräulich sind und die Autorin selbst überraschen, brilliert Florian Illies mit quasi-auswendig gelernten Pointen. Generation Golf auf beiden Seiten, im Publikum und auf dem Podium, bleibt nichts als die schon geahnte Gewissheit: So unterschiedlich sind wir doch nicht. Wir hatten uns schemenhaft erinnert, er allerdings das gedruckte Erstverwertungsrecht davon, wie himmlisch ein Nutellaglas beim Öffnen aufploppt. Unterm Deckel dann Altbekanntes.

Den austarierten Balanceakt zwischen Inszenierung und purer Vorlesefreude stemmt der Provokationsroutinier Fritz J. Raddatz. Ein letzter Beweis der Kraft des Textes obliegt allerdings Julia Franck. Bei ihr sind Atmosphäre des Stoffes und die Stimmung während der Lesung bedrückend deckungsgleich.

Und am Ende des Festivals dann doch: Ein fahrig unterhaltender Benjamin von Stuckrad-Barre mit einer fast fahrlässigen anything goes-Lesung. Pop never dies ...

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