Manch alter Kämpfer mag mit dem väterlichen Wunsch zum Sozialforum nach Paris gekommen sein, die Vordenker von einst fänden endlich wieder Nachahmer. Doch volle Seminare mit Elmar Altvater, Susan George, Walden Bello und anderen Stars der Bewegung sind trügerisch. Die alte Elite ist für die Jungen eher behäbig und reaktionsträge. Statt immer nur die dominierende Rolle des Kapitals zu beklagen, wollen sie praktisches Handeln. Bei einem dank Antonio Negri überfüllten Plenum sind es vornehmlich Jugendliche, die "outside, outside" rufen und eine Verlagerung nach draußen ins Freie erzwingen. Den jungen Leuten - das war ein oft zu hörendes Credo in Paris - gehören die öffentlichen Räume. Sie erobern sich zurück, was stetig kommerzialisiert und von Diskussionen befreit wurde.
Vor dem Park de la Villette, in dessen Kongresszentrum viele Veranstaltungen stattfinden, gibt es Feuerschlucker, Mitglieder von "Linksruck" aus Berlin verteilen ihre Zeitung, und ohne Unterlass werden Sprechchöre für die Abschlussdemonstration trainiert. Mit einem Megaphon mahnt jemand eindringlich: "Ist es nicht langsam an der Zeit, an unsere eigene Rhetorik zu glauben?" Der trockene theoretische Diskurs, der im Inneren des Gebäudes stattfindet, erhält plötzliche ein Moment eigener Handlungsstärke und lässt viele der Umstehenden mit großen Augen zurück. Die Hyperkomplexität gesellschaftlicher Verhältnisse, der die Veranstalter mit einem Programm aus unzähligen Seminaren, Workshops und Diskussionsforen begegnen, scheint in einem Satz auflösbar.
Die Umgebung der vier Veranstaltungsorte ist geprägt von Zeltstädten voller Jugendlicher, Imbissbuden alternativer Bauern und Plakaten der unterschiedlichsten Gruppierungen, die sich an die vorbeiströmenden Passanten wenden. Sämtliche Zufahrtswege verwandeln sich, so scheint es, in Plattformen des Sozialforums. Der Vorort Bobigny wird auf unzähligen Bannern zur "internationalen Stadt" erklärt und jeder Metrowagen verwandelt sich in einen politisierten Raum, in dem eine russische Delegation sich ganz praxisnah von ihren Londoner Freunden berichten lässt, was von einer privatisierten U-Bahn zu halten ist. So zeigt sich eine andere Welt selbst beim lästigen Pendeln zwischen den einzelnen Schauplätzen des Forums. Die langen Transitzeiten im Untergrund von Paris verwandeln sich in spannende Reflexionen: über Utopien und über die gerade vorausgegangene Veranstaltung, die wieder einmal zu wenig Platz zum Austausch ließ.
Am Freitag, um 18 Uhr, treffen sich die deutschen Teilnehmer im samtgeschmückten Hochzeitssaal des Rathauses von St. Denis. Es geht um die Gründung eines deutschen Sozialforums, mit "möglichst breitem Dach", wie ein Redner empfiehlt. Horst Schmitthenner, Vorstandsmitglied der IG Metall, sieht ebenfalls die Schnittmenge der Gewerkschaften mit anderen sozialen Bewegungen wachsen. Nur diese Feststellung muss auch Folgen haben, meinen darauf einige Teilnehmer und reden sich ihre Enttäuschung von der Seele, dass die Gewerkschaften nicht zum 1. November in Berlin mobilisiert haben. Deutlich wird, wie sehr die deutschen Arbeitnehmerverbände im Urteil der Globalisierungskritiker schwanken - einerseits wichtiger Bündnispartner und andererseits Teil des Systems, unfähig, der Regierung gegenüber zu treten, weil sie in ihr das kleinere Übel sehen und nicht den Vollstrecker neoliberaler Gesetze.
Als Frank Bsirske, der ver.di-Chef, gegen Ende der Veranstaltung hektisch den Raum betritt, hat er nicht mitbekommen, dass es vorher den größten Applaus bei Polemiken gegen Michael Sommer gab, seinen Kollegen vom DGB. Etwas unwillig und so, als stünde er nicht selbst hinter der Idee, sondern hätte sich gerade erst dazu hinreißen lassen, verkündet er schließlich doch, wie wichtig auch den deutschen Gewerkschaften der vom Sozialforum beschlossene europaweite Aktionstag am 20. März 2004 sei und dass er selbst dafür mobilisieren wolle.
Den Beweis für den möglichen Erfolg einer solchen Zusammenarbeit liefert die abschließende Demonstration. Französische Gewerkschaften sorgen dafür, dass sich auf der traditionelle Route von der Place de la République über die Bastille zur Place de la Nation die Zahl der Forumsteilnehmer verdoppelt. Bei der Rückfahrt mit der Metro noch ein Indiz einer "anderen Welt": Jedes zweite Werbeplakat der Luxusdesigner und Discountmärkte in den U-Bahnschächten ist entweder herabgerissen oder von Schriftzügen der "Casseurs de pub" gezeichnet. Sie, die Rächer des Gemeinwohls, haben der Werbung den Kampf angesagt.
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