„Dass Ihr euch für uns interessiert!“

1989 – Jetzt! Neu-Leipziger aus dem Westen laden ihre ostdeutschen Nachbarn zu einer Ausstellung ein, um über die Wende zu reden

„Ostalgie geht gar nicht.“ Der ältere Mann, nennen wir ihn Heinz, schimpft über die Schrift auf der Torte. „Ostalgie erleben“ steht dort, versehen mit aktuellem Datum, in Schnörkelschrift aus braunem Zuckerguss. Thomas hat sie extra beim Konditor für den heutigen Anlass bestellt.

Bei Kaffee und Kuchen soll hier, in einem Mietshaus in Leipzigs Norden, ein Speed-Dating stattfinden, bei dem es nicht ums Flirten, sondern um Geschichten aus der Nachwendezeit geht. Daran zu erinnern, das ist für Thomas Ostalgie. „Ne, das ist die Verklärung von damals, Erinnerungskitsch“, hält Heinz dagegen. Noch vor dem Startschuss für das Dating beginnt so die Diskussion. Als Gesprächsöffner hat die Ostalgietorte offensichtlich funktioniert.

Gespräche eröffnen: Damit ist auch die Idee hinter der Ausstellung benannt, zu der das Speed-Dating gehört. Das Projekt Westblech und Wendeschwur bringt Leipziger Geschichten aus der Wend- und Nachwende zusammen. Gleichrangig wurden dafür Stimmen versammelt, stehen nicht die Namen und Postionen im Vordergrund, sondern die individuellen Perspektiven. Denn wer spricht und sprechen darf über 1989 und die Folgejahre, das polarisiert noch immer. Das will das Projekt im Kunstraum Krude Bude mit seinem Ansatz der Vielstimmigkeit aufbrechen.

Vom Jugendclub zum Discounter

Leipzig, Schönefeld-Abtnaundorf: Über einer von außen schäbig wirkenden Spielothek liegt der Kunstraum. Das abgeranzte Eckhaus ist ein Wächterhaus: Für fünf Jahre können es ehrenamtliche Projekte nutzen, um es auf diese Weise wenigstens vor Verfall zu retten. Das Gebäude und seine Umgebung wirken aus der Zeit gefallen und geben dadurch eine treffende Metapher für das Lebensgefühl vieler Nachwende-Ostler, immer ein bisschen am Rand zu stehen, gesellschaftlich nie voll dabei zu sein. Das Viertel liegt eigentlich nicht weit vom Zentrum entfernt, man kann vom Fenster des Kunstraums aus das Rathaus sehen. Aber durch Bahnlinien und eine Brücke wirkt das Quartier wie abgeschnitten vom Herzen der Stadt. An einer Wand ist ein Plan des Quartiers aufgemalt. Ziffern markieren Stellen mit verschwundenen Orten. Wo der Jugendclub stand, ist heute eine Discounter.

„Wir wollten mitbekommen, wie unsere Nachbarn die Zeiten um die Wende und danach erlebt haben“, sagt Ann-Katrin Lipke vom Krude-Bude-Verein. Seit fünf Jahren bespielen sie die Drei-Raum-Wohnung, in der kein Mensch wohnt. „Viele von uns sind westdeutsch sozialisiert, aber wir leben Tür an Tür mit Menschen, die die Ereignisse damals direkt miterlebt haben. Als Nachwendegeneration haben wir vielleicht auch die Chance, mit Abstand anders daraufzuschauen, sich neu mit 89 zu beschäftigen und endlich auch eine differenziertere Betrachtung anzustellen.“ Dafür wurden Zeitzeugen gesucht. Sieben waren bereit, in Interviews Auskunft über ihre Sicht der Dinge zu geben. Diese sind ungeschnitten zu sehen – Zitatschnipsel sind darüberhinaus zu thematischen Blöcken verarbeitet, versehen mit Überschriften wie „Sie sind wohl nicht von hier“. Das Ausstellungsprojekt soll einen Raum schaffen, sagt Lipke, in dem Menschen aus unterschiedlichen Altersgruppen und Milieus miteinander ins Gespräch kommen – „unabhängig davon ob west- oder ostdeutsch, zugezogen oder gebürtig aus Leipzig“.

„Ich kann es nicht fassen, dass Ihr als junge Leute aus dem Westen euch für uns interessiert“: die ältere Frau freut sich sichtlich über die Möglichkeit des Speed-Datings. Einige Protagonisten der Ausstellungsinterviews sind an diesem Sonntagnachmittag gekommen. Einige weitere aus der Zeitzeugengeneration folgten ebenfalls dem Aufruf. Sie treffen alle pünktlich ein. Die meisten der Jüngeren kommen eine Viertelstunde zu spät. Dann sind gut 30 Menschen auf den drei Zimmern und auf dem Flur verteilt. Sie ziehen Nummern, die angeben, zu und von welchen Stationen sie wechseln sollen. Alle sieben Minuten entsteht so eine neue Paarung. An den Stationen treffen Anfang-Zwanzigjährige auf die Alterskohorte 60plus.

Eine Reform der DDR

„Was wollen Sie denn hören? Haben Sie Fragen oder soll ich erzählen?“ Ganz schnell entspinnen sich kleine Gespräche. Von der Angst, plötzlich überrumpelt, arbeitslos zu werden, ist mehrfach zu hören. Dass diese Angst nicht mehr wegging. „Ich fürchtete von heute auf morgen, mit den Kindern unter der Brücke schlafen zu müssen.“ – „Das wundert mich nicht, dass sich das auf das Denken und Handeln ausgewirkt hat.“ – „Um wen man sich nicht kümmert, der wird bockig.“

Eine Frau hat ein Foto mitgebracht, das ihr wichtig ist. Es zeigt sie mit ihrem Mann und Kindern sowie Schwiegereltern bei einer Montagsdemonstration. „Das war drei Wochen nach dem 9. Oktober“, erzählt sie. „Sonst hätten wir die Kinder nicht mitgenommen, das wäre viel zu gefährlich gewesen.“ „Bildungsreform“ steht auf dem Transparent, das sie hält. „Es ging uns damals nicht um die Wiedervereinigung, wir wollte eine Reform der DDR erreichen. Darum riefen wir auch ‚Wir bleiben hier!‘“

Sie klingt, als erkläre sie gegen die Flut falsch datierter Bilder an, die Kinder mit Kerzen um den Ring in Leipzig ziehend zeigen. Die Demonstrationen in der DDR werden im offiziellen Gedenken noch immer vom Ende her interpretiert, das ärgert nicht nur diese Frau. So meint eine andere: „Ich persönlich war enttäuscht, als es auf den Demos nur noch um Konsum und Westgeld ging.‘“ Und natürlich bedeutete der Systemwechsel zu allererst auch Überforderung. „Kindergarten, Hort, alles kostete mit einem Mal Geld. Nach der Währungsreform kosteten Gurken das Dreifache. Und ich dachte mir, dass ich nie wieder eine Gurke essen werde.“ Sie lacht, ganz so schlimm sei es ja dann nicht gekommen. „Das war ein lebendiges Viertel hier“, beschreibt jemand den Wandel. „Wenn überhaupt mal was passiert, dann öffnet hier eine Pizzeria oder ein Döner.“ Eine Vierte meint: „Ich finde das Wort Nachwendezeit komisch, das ist doch eher so ein Kontinuum.“

Streitpunkt Ostalgie

Doch nicht nur die Älteren erzählen und die Jüngeren fragen. Interessanterweise entspinnen sich Gespräche alsbald auch über die Gegenwart, bitten die Älteren die Jüngeren, von sich zu erzählen. So berichtet ein Mann aus Bonn, Jahrgang 1994, dass es für seine Eltern „ein großes Ding“ gewesen sei, dass er im Osten studiert. Jetzt lebe er schon sechs Jahre in Leipzig. „Bleiben Sie hier?“, will seine Gesprächspartnerin wissen. „Wahrscheinlich ziehe ich zurück zur Familie.“ – „Das ist aber schade.“

Es geht auch um die Erfahrungen, ob eine Ost-West-Unterscheidung heute noch sinnvoll ist, wie die wieder aufgeflammte Debatte um ostdeutsche Identität andeutet. „Mich muss niemand integrieren“, meint ein Mann mit Hinweis auf das Buch Integriert doch erst mal uns! von Sachsens Staatsministerin Petra Köpping. „Da ist eine ganze Generation ausgelassen, ja übergangen worden“, schiebt er hinterher. Man müsse sich in der Nachbarschaft nur mal umsehen, da gebe es einige Wendeverlierer. Aber da könne man nichts machen, muss sich halt durchschlagen.

So ist en passant von Themen und Einsichten zu hören, die von der Vielfalt der Erfahrungen zeugen. Nur dass sich die Gesprächspartner wirklich aufeinander einlassen, gleichberechtigt zuhören und Fragen stellen – auf Augenhöhe könnte man sagen, wäre das nicht zu abgedroschen. Dieses Speed-Dating zeigt im Kleinen, was im Großen nötig wäre. So kehrt auch die Ostalgie-Debatte in den kleinen Kunstraum zurück. „Man muss sich doch erinnern, wie wir damals lebten, was die DDR war“, sagt Thomas, bevor die Torte mit dem Schriftzug angeschnitten wird. „Das ist für mich Ostalgie und da ist nichts Schlimmes dran.“ – „Aber wenn ich anfange, mich ostmäßig einzuschließen“, sagt daraufhin Heinz, „mich darin einzuleben, dann geht es nicht weiter. Dann bleibe ich im Kopf stecken. So funktioniert Ostalgie.“

Die Ausstellung Westblech und Wendeschwur in Leipzig endet mit einer Finissage am 10. November 2019. Mehr Informationen sind unter diesem Link zu finden.

Mehr aus Freitag-Serie „1989. Jetzt“ lesen Sie in den am 31. Oktober und 7. November erscheinenden Ausgaben.

Tobias Prüwer, geboren 1977 in Erfurt, studierte Philosophie und Geschichte. Er arbeitet als Journalist und freier Autor in Leipzig

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