Sie empfängt in einem typischen Leipziger Gründerzeitbau, hier hat Christiane Eisler, 60, ihre Wohnung und ihr Büro. Im Wohnzimmer stehen Archivschränke, Kameras aus DDR-Produktion sind wie Ausstellungstücke drappiert. Fotografien und Postkarten hängen an den Wänden. Der Bierdeckel, auf dem sie ein Glas Wasser serviert, ist mit dem Gesicht eines Punks bedruckt.
der Freitag: Frau Eisler, wie würden Sie erklären, was gerade in Sachsen los ist?
Christiane Eisler: Das versuchen ja im Moment viele Soziologen oder Politologen. Bei mir persönlich stellt sich zuerst ein Bedauern ein, dass die Region und Städte wie Leipzig, Dresden und Chemnitz durch rechtsextreme Demonstrationen so ein schlechtes Bild abgeben. Aus meiner Sicht ist es nur eine bestimmte Gruppe, die sich so aggressiv verhält. Ich habe gerade hier in Leipzig das Gefühl, dass man mit Zivilcourage dieser Wut entgegenwirken kann. Es gibt Gegendemonstrationen von links, selbst der Bürgermeister schaltet sich mit ein. Aber da sind sicher auch Fehler passiert.
Welche?
Wenn Vokabularien verwendet werden wie „Der Mob ist auf der Straße“, dann steckt man die Menschen in Schubladen. So geht man nicht miteinander um. Wir sollten aufeinander zugehen, einander ernst nehmen. Auch wenn der andere im Zweifel Sachen sagt, die unmöglich sind, wenn er womöglich gewaltbereit ist: Man muss in der Gesellschaft miteinander reden. Das ist verpasst worden.
Sie waren mit der Kamera bei den Montagsdemos von 1989 dabei. Hat es Sie als dokumentarische Fotografin gereizt, Bilder von Pegida zu machen?
Nö, überhaupt nicht. Ich fand es anfangs auch schade, dass man sie so stark wahrgenommen hat. Ich glaube, man hätte eine Chance gehabt, Pegida kleiner zu halten, wenn die Medien sie nicht besucht hätten. Früher habe ich bei Fotoarbeiten auf Demonstrationen selbst noch einen Funken gehabt, wollte mich mit einbringen. Aber bei Pegida findet man eigentlich keine Worte dafür. Das ist für mich eine menschliche Enttäuschung, die ich nicht verhindern kann, aber auch nicht ablichten möchte.
Bilder von Außenseitern
Schon mit sechs Jahren bekam sie ihre erste Kamera umgehängt. Christiane Eisler, 1958 in Berlin geboren, stammt aus einer Fotografenfamilie. Sie fotografierte im Tierpark ein Flamingopaar und das Bild wurde in einer Betriebszeitung gedruckt – der Anfang.
Sie ging dann an die begehrte Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst und hat bei Evelyn Richter und Harald Kirschner studiert. Sie lebte 1982/83 in Leipzig, arbeitete an ihrer Diplomarbeit, war in einem Jugendwerkhof in Sachsen und in der Punkszene unterwegs. Ihre Arbeit Ich trage ein Herz mit mir herum blieb jedoch unter Verschluss. Auch Bilder über das Leben von Jugendlichen in einem Leipziger Neubaugebiet wurden nicht veröffentlicht. In den folgenden Jahren wurden häufig Ausstellungen verboten und abgehängt.
1987 zeigte Christiane Eisler ihre Bilder dann im Studentenclub Moritzbastei. Nach der Wende machte sie vor allem journalistische Fotografie. 2017 erschien ihr Bildband WUTANFALL. Punk in der DDR 1982 – 1989: Die Protagonisten damals und heute (360 Seiten, 50 Euro), in dem alle Arbeiten erstmals vereint sind.Eisler konnte das Buch dank einer Crowdfunding-Kampagne im Eigen-verlag veröffentlichen. Bis 5. Oktober läuft im KOMM-Haus in Leipzig-Grünau die Ausstellung mit ihren Punk-Bildern. Am 15. September ist Chaos, Sänger der Band Wutanfall, zu Gast. Diesen Herbst gibt Christiane Eisler Fotokurse in der Toskana. Maxi Leinkauf
Existiert in Sachsen noch ein Ost-West-Denken?
Das ist noch lange nicht weg. Es ist auch normal, dass es das noch gibt: Das wird noch eine Generation dauern. Meine Tochter lebt heute in Stuttgart, und man merkt, dass die Gemeinschaft dort weniger gespalten ist. Man begegnet sich anders.
Offener?
Nein, anders, weil sie andere Erfahrungen gemacht haben. Wir diskutieren mit ihnen über unsere verschiedenen Erlebnisse. Das gehört für mich dazu. Wenn die einen 40 Jahre lang abgeschottet sind und man sie dann Wieder in die Welt herauslässt, ist da natürlich Spannung. Die Gesellschaft, die wir jetzt haben, ist eine Errungenschaft – auch wenn es nicht die Gesellschaftsform ist, die sich viele vorstellen.
Wie meinen Sie das?
Solange es in unserem Land in vielen Bereichen an Sozialem fehlt, solange man nicht bei den Bedürfnissen der Schwächeren anfängt, suche ich eben noch nach einer anderen Gesellschaftsform. Das mag man utopisch nennen.
In der Abschlussarbeit an der Kunsthochschule widmeten Sie sich Leipziger Punks der frühen 1980er Jahre. Wie kam das?
Ich war als Studentin in einer alten Abrissbude im Leipziger Seeburg-Viertel untergebracht. Wir Kunststudenten mussten nicht im Internat leben, konnten in abgewrackten Wohnungen unser Künstlerdasein fristen, mit der Toilette eine halbe Treppe tiefer. Hundert Meter weiter lag der Proberaum der Band Wutanfall. Ich sah die Jungs auf dem Weg dorthin an mir vorbeischleichen in ihren abgewetzten Lederjacken, Zigarette im Mund. Dann habe ich sie angesprochen.
Sie wurden die Helden Ihres Diplomprojekts.
Ich wollte schauen, wer diese Jungs sind, was sie machen und warum. Ich ließ mich ein Jahr auf sie ein, fuhr mit ihnen auf ihre Konzerte, besuchte sie zu Hause. Das war kurz bevor die Stasi 1983 die Operative Personenkontrolle „Stern“ gegen Wutanfall einleitete, um sie zu zerschlagen. Das haben sie dann auch geschafft.
Erst 2017 sind die Arbeiten veröffentlicht worden. Warum so spät?
Zu DDR-Zeiten war meine Diplomarbeit nicht öffentlich einsehbar, was ich erst später erfuhr. Sie lag im Giftschrank, war aber sehr zerpflückt. Nach der Wende haben wir sie fürs Hochschularchiv wiederhergestellt. Für das Buchprojekt war die Zeit einfach reif. 2016 war dann die Zeit und Muße, mich darum zu kümmern.
Sie haben die ehemaligen Punks noch mal getroffen – in ihrem neuen Leben.
Ja. Veränderungen sind als fotografisches Stilmittel sehr interessant. Ich finde es reizvoll, immer wieder an Orte oder zu Menschen zurückzukehren. Ich habe beispielsweise die Berliner Mauer fotografiert, als sie gerade fiel, dann zehn und zwanzig Jahre später wieder. Und so kehre ich auch zu Menschen zurück, die ich einmal fotografiert habe. Ich habe Bilder von Mädchen auf dem Jugendwerkhof in Crimmitschau 1982/83 gemacht, in dem sie umerzogen werden sollten. Die Journalistin Gundula Lasch und ich wollten dann wissen, wie es den Frauen heute geht. Da haben wir einen Aufruf gestartet und es haben sich Frauen von damals gemeldet.
Wie war das Wiedersehen?
Ich habe sie nicht erkannt. Und die meisten konnte sich an die Fotografin von damals gar nicht mehr erinnern. Aber anhand der Bilder kamen bei den Betroffenen manche Erlebnisse zurück. Das hat mich in der Summe sehr bewegt, weil die Biografien so gebrochen waren. Die Zeit im Jugendwerkhof hatte für alle eine einschneidende Bedeutung und hat sie über die Wende hinaus fürs ganze Leben geprägt. Das war mit der neuen Zeit nicht weg. Die DDR war weg, aber eine Ausbildung oder das Abitur nachholen war den Frauen aufgrund ihrer psychischen Lage zum Beispiel nicht möglich. Obwohl viele gekämpft haben und heute im Leben stehen.
Existiert noch so etwas wie eine Ostbiografie?
Ich schildere, was ich in meinem fotografischen Leben erfahren habe. Anfang der 90er Jahre habe ich eine Fotodokumentation über Arbeitsplätze von Frauen in Sachsen gemacht: Luxus Arbeit. In den dazugehörigen Interviews mit Frauen überwog die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Einfach nicht zu wissen, wie sie ihren Unterhalt verdienen sollen, wie es weitergehen wird. Diese Ängste haben sich erst nach vielen Jahren etwas abgebaut. Ich würde da gar nichts Typisches Ostdeutsches herausdistillieren wollen. Wir waren einfach gewohnt zu arbeiten. Frauen in den alten Bundesländern, die sich in ähnlicher Situation befinden, werden diese Erfahrungen nachvollziehen können.
Wie finden Sie Ihre Themen?
Da bin ich vom Studium geprägt. Die Fotografin Evelyn Richter hat sehr sozialdokumentarisch gearbeitet, das hat uns beeinflusst. Wenn es kritisch wurde, habe ich eine Arbeit daraus gemacht, wie damals die Umweltbelastung im Erzgebirge. Es war mir immer wichtig, die Fotografie auch als Mittel der Kritik zu nutzen.
Kann Kunst heute noch politisch sein?
Kunst ist heute schon zu oft zum Alibi geworden. Ihre Kraft ist nicht mehr so da, man redet sich die Dinge dann eben zurecht. Aber es gibt noch aufrüttelnde Projekte, gerade in anderen Teilen der Welt, wo man Missstände aufdecken kann. Ich will da junge Fotografen nicht entmutigen. Selbst würde ich gern mal in einem Altenheim fotografieren.
In den 1990er Jahren waren Sie dann journalistisch unterwegs.
Ja, wir betrieben die Fotoagentur Transit, die es heute noch als Archiv gibt. Wir bekamen spannende Geschichten auf den Tisch, weil wir für Spiegel oder Stern unterwegs waren. Die haben uns auf Themen aufmerksam gemacht, an denen wir dranblieben: etwa die Zeltlager der Sinti und Roma hier in Leipzig, die ich besuchte.
Was beschäftigt Sie heute?
Ich bin künstlerisch tätig, mache Porträts. Im Moment dokumentiere ich die Stadtentwicklung von Leipzig, der Stadt, in der ich seit 40 Jahren lebe. Gerade die letzten fünfzehn Jahre waren speziell. Damals war die Entwicklung zur Boomtown noch gar nicht abzusehen. Ich hätte sonst womöglich ein Atelier erworben, um mich für später abzusichern. Jetzt ist es zu spät. Allein eine Neumiete wäre heute eine Herausforderung. Wenn wir weiter so explodieren, wird der Wohnraum in Leipzig Luxus.
Fotografie verändert sich, wird digital und virtuell. Macht es noch Spaß?
Ich habe nie etwas anderes gemacht. Viele wechseln ja in ihrer Biografie die Tätigkeiten, aber ich gucke bis heute noch jeden Tag, an dem ich die Kamera hochnehme, gern durch das Rechteck hindurch. Aber es muss der Blick durch die Linse sein. Ich brauche das noch ganz klassisch.
An welche Orte kehren Sie gern zurück?
Ich bin seit 30 Jahren regelmäßig im Havelland und fotografiere dort. Jeder braucht für seine Seele ja einen Ausgleich, gerade wer sich mit schwierigen Themen befasst. Ich beobachte jedes Jahr die Ankunft und den Abschied der Störche im Havelland.
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