Am Abend stand die große Reinigung an. Während draußen ergiebiger Regen die Straßen Kopenhagens spülte, braute sich im studentischen Performance-Raum „Sort/Hvid“ ein musikalisches Gewitter zusammen: Zwei Schlagzeuge, diverse Keyboards, dazu Gitarren, Saxofon und Trompete bildeten einen Kreis in der Mitte des Raumes, als die Band „Hess is more“ um den Schlagzeuger Mikkel Hess kurz nach Mitternacht eintraf. Aus dem alten Flügel in der Ecke klimperte ein Walzer, bis die Melodie übersprang auf die Free Funk-Combo in ihren einheitlich schwarzen Sporttrikots. „My Head is a Ballroom“ brüllten sie zu präzise krachenden Beats – und das tanzende Publikum stimmte willig ein in diesen rituellen Gesang.
Die ekstatische Party kam gerade recht zum Abschluss des Copenhagen Jazz Festivals. Zehn Tage lang waren auf rund 100 Bühnen insgesamt 1200 Konzerte zu sehen gewesen. Da kann schon mal der Kopf schwirren, wenn sich die ganze Stadt zur Festival-Location verwandelt. „Wir planen nur etwa 200 Konzerte des Programms selbst“ erzählt Christian Dalgas vom Festivalteam, “die anderen werden von privaten Clubs, Cafés usw. veranstaltet. Und jeder gibt sich Mühe, nur das Beste zu präsentieren, sonst geht das Publikum einfach woanders hin. Wir sagen oft: 'Wirf einen Stein über die Schulter und Du triffst ein gutes Konzert'.“ Wie zum Beispiel in der Kayak Bar am Nyhavn, wo der Pianist Peter Rosendal und sein Trio mit E-Piano und Basstrompete die üblichen Kammermusik-Konventionen kurzerhand über Bord warf.
Natürlich lockt auch das Copenhagen Jazz Festival mit den großen Namen des internationalen Jazz-Zirkus: mit Gregory Porter etwa, der im Konzertsaal des Dänischen Rundfunks auftrat und von Stevie Wonder als special guest begleitet wurde. Andere „Headliner“ waren John Scofields Überjam. Oder etwa Joshua Redman, der schon öfter prominenter Gast in Kopenhagen war. Diesmal trat er mit seinem Quartett in der „Jazz by the Sea“-Reihe auf: in Beachclub-Atmosphäre am Hafenrand, Sonnenuntergang inklusive.
Doch das zentrale Element des Jazz ist die Improvisation und die besten Konzerte sind jene, in denen die Freiheit zu spüren ist, die sich die Musiker von allen vorbereiteten Absprachen nehmen. Wie beim Gastspiel des Quartetts „Prism“ des Bassisten Dave Holland. Dessen Karriere begann vor 45 Jahren, als Miles Davis ihn für das legendäre Album „Bitches Brew“ engagierte. Jazzrock-Formeln waren auch für „Prism“ der roten Faden, sie woben ihn ein in ihr feines Gewebe von Rhythmen, das sie zwischen Gitarre (Kevin Eubanks), Bass (Holland), E-Piano (Craig Taborn) und Schlagzeug (Eric Harland) aufspannten. Den richtigen Rahmen fand diese durchsichtige Musik im Jazzhouse Copenhagen, dem wichtigsten Jazzclub in der Innenstadt. Das ist er nicht nur, weil der Saal die besten Bedingungen zum konzentrierten Zuhören bietet; auch der Horizont des Programmangebots ist angemessen breit. Nur ein paar Tage zuvor waren hier der Baritonsaxofonist Mats Gustafsson (The Thing) und Thurston Moore (Sonic Youth) im Duo aufgetreten, dynamisch etwa zwischen FreeJazz-Powerplay und dem Rauschen elektronischer Schaltkreise angesiedelt.
Nur zwei Straßenecken weiter liegt das „Jazzhus Montmartre“, ein historischer Ort des dänischen Jazz. In den 1950er und 60er Jahren war eine ganze Reihe amerikanischer Musiker wie Ben Webster, Dexter Gordon oder auch Stan Getz auf Europatourneen in Kopenhagen hängen geblieben - und im Montmartre fanden die „Expatriates“ ihren Treffpunkt. Bis heute prägt der klassische Mainstream-Jazz das Programm des kleinen Clubs in der Altstadt.
Den jungen Jazz in Kopenhagen findet man eher außerhalb der Innenstadt: „Take a walk on the smelly side of Copenhagen Jazz Festival“ heißt ein Programmheft, das die Festivalbesucher zu den Konzerten von sechs unabhängigen Initiativen führen soll. Etwa zum Trio „The Mighty Mouse“, dessen Bassist Adam Pultz Melby grundsätzlich barfuß auftritt – passender weise heißt das gemeinsame Label dann auch „Barefoot Records“. Ein paar hundert Meter weiter veranstaltet der „Jazzclub Loco“ seine Konzerte im „Loppen“ – dem Musikclub der „alternativen Freistadt Christiania“, in der zwar immer noch Marihuana und die berühmten Lastenfahrräder verkauft werden, die aber inzwischen Miete für das einst besetzte ehemalige Militärareal zahlt.
Entsprechend gemischt ist dann auch das Publikum, als die Liedermacherin Ane Trolle sich mit drei Jazzmusikern (Simon Toldam, Mads Hyhne und Silas Hagemann) trifft, um aus dem Stand Popsongs mit Synthesizern, Elektronika-Schlagzeug und Posaune als zweiter Stimme zu improvisieren. Hier applaudieren die Alternativen gemeinsam mit den extra aus den bürgerlichen Stadtteilen angereisten Kopenhagenern.
Denn das Copenhagen Jazz Festival ist mehr als nur ein beinahe unüberschaubares Konzertprogramm. Es ist auch ein überbordendes Stadtfest. So kommt die Nachbarschaft am Freitag Nachmittag auf dem Balders Plaads im studentisch-migrantischen Stadtteil Nørrebro zusammen, um ein Trio mit dem amerikanischen Pianisten Aaron Parks zu sehen. Der hatte das Festival auch schon eröffnet, mit einem Konzert im Haus der Tageszeitung „Politiken“.
Eines der letzten Konzerte des Festivals fand in „Den Sorte Diamant“ statt, dem schwarz verkleideten Neubau der königlichen Bibliothek. Hier trat der Gitarrist Jakob Bro im holzgetäfelten modernen Konzertsaal auf. Gemeinsam mit dem Bassisten Thomas Morgan und Schlagzeuger Jon Christensen hat er gerade sein ECM-Debüt eingespielt, für das Konzert kam noch der Trompeter Palle Mikkelborg dazu; auch er ein Vertreter des eher introvertierten, so genannt „nordischen“ Jazz. Die Musik der vier schien aus dem Nichts zu kommen, so sanft und lyrisch entfalteten sich die Klänge. Als das Quartett nach einer Stunde kollektiven Improvisierens die Instrumente sinken ließ, bracht minutenlanger, stehender Applaus los. Kopenhagen feierte seine JazzmusikerInnen.
Tobias Richtsteig ist Musikjournalist und schreibt und spricht über Jazz unter anderem für dieFrankfurter Rundschau, NDR und Deutschlandfunk
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