Zhenjas letzter Satz

Ukraine Bei Facebook schreibt ein Bekannter, dass er in den Krieg zieht. Einmal postet er: „Danke, Herr Präsident.“ Dann kommt keine Nachricht mehr
Ausgabe 15/2015

In Odessa hat Zhenja mir gezeigt, wie man Messer wirft. Das war im Wohnheim des Instituts für öffentliche Verwaltung beim Präsidenten der Ukraine, der damals noch Wiktor Janukowytsch hieß. Der Trick war, dafür zu sorgen, dass das Messer nach zahlreichen Umdrehungen mit der Spitze voran auf die Wand traf. Irgendwann hatte man es im Gefühl. Die Klinge musste mit der stumpfen Seite locker zwischen Daumen und Zeigefinger aufliegen. Die Fingerkuppen fixierten die Klinge ganz vorn und dann kam der Schwung aus dem Ellenbogen und ganz zum Schluss, kurz vorm Loslassen, auch aus dem Handgelenk. Dann klappte es, dann traf das Messer mit der Spitze auf die Wand und riss ein weiteres Loch in die Blümchentapete des kleinen Zimmerchens, in dem Zhenja zusammen mit einem Kommilitonen wohnte.

„Molodez“, hieß es dann – „Prachtkerl“. Auf Russisch, wir sprachen immer Russisch. Das war, lange bevor der Krieg in der Ukraine begann. Lange bevor Tausende ukrainische Soldaten bei dem Verkehrsknotenpunkt Debalzewe in einen Kessel gerieten, umgeben von Aufständischen. Lange bevor deren Kommandeur Alexander Sachartschenko seine angekündigte Rache wahr machte und im Februar 2015 genau das geschah, wovor viele Militärexperten zuvor gewarnt hatten.

Zhenja war ein Verwaltungsbeamter aus Mohyliw-Podilskyj, einem Städtchen im Südwesten der Ukraine, direkt an der moldauischen Grenze. Als wir uns kennenlernten, 2011, war er gerade in Odessa zur Fortbildung. Damals schien das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine kurz vor dem Abschluss, der Handel sollte liberalisiert werden, auch wollte man Direktinvestitionen erleichtern. Aber das Abkommen scheiterte, die EU forderte die Freilassung Julija Tymoschenkos, die damals noch im Gefängnis saß. Präsident Janukowytsch lehnte das ab. Erst als der Krieg in der Ukraine schon ausgebrochen war, unterschrieben beide Seiten im Sommer 2014 das Abkommen im Hauruckverfahren. Zhenja hätte sein Land am liebsten schon 2011 als Mitglied der EU gesehen, wirklich gehofft hat er das vermutlich nicht.

Am „Tag des Sieges“, am 9. Mai 2011, als in Odessa Menschen die Befreiung von der Okkupation durch das Nazi-Regime feierten und mit sowjetischen Flaggen durch die Stadt zogen, gab es einen Tumult. Männer entrissen den Teilnehmern des Gedenkens die Fahnen mit Hammer und Sichel und steckten sie in Brand. Viele Ukrainer mochten es nicht, wenn Symbole der Sowjetzeit gezeigt wurden. „Die Aufregung ist mir peinlich“, meinte Zhenja damals. „Russen und Ukrainer. Wir haben doch alle gemeinsam gekämpft, wir haben alle gemeinsam die Faschisten besiegt.“

Im Kessel

Mitte August 2014 schrieb Zhenja bei Facebook, dass er in den Krieg ziehen werde. Er sei eingezogen worden, um für die reguläre ukrainische Armee gegen die Separatisten im Osten zu kämpfen. Er befinde sich noch in einem Ausbildungslager in Mukatschewe, ganz im Südwesten, unweit der rumänischen Grenze.

Ich fragte zurück, warum gerade er eingezogen worden sei. All die anderen, die ich kannte – Alek, Wowa, Vasyl –, keiner von ihnen musste gehen. „Ich weiß es nicht“, schrieb er. „Ich weiß nur, dass ich jetzt seit zwei Wochen hier bin.“ Ein Freund kaufte ihm eine noch nicht getragene Ausgehuniform mit ukrainischer Flagge für 900 Griwna (etwa 40 Euro). Damit das Geld reichte, verzichtete die Frau des Freundes auf ein Kleid, der Freund selbst auf eine Hochzeitsfeier, und ein weiterer Freund gab noch 200 Griwna dazu. So blieb Geld für mehrere Packungen Celox übrig, ein Mittel zum Stillen von Blutungen bei Schusswunden. Im September 2014 dann wurde Zhenja in die Ostukraine kommandiert, in den Krieg gegen die Separatisten. Und er war sich sicher, auch gegen Wladimir Putins Russland zu kämpfen.

Damals in Odessa, als Zhenja noch Verwaltungsbeamter war und kein Soldat, kam irgendwann eine Delegation von Kollegen aus der westukrainischen Stadt Lwiw zu Besuch. Die Beamten aus unterschiedlichen Regionen sollten sich kennenlernen. Ein Trinkgelage jagte das nächste. Aber die Toasts, die langen Reden vor dem nächsten Glas waren bei den Gästen anders als bei den Studenten aus Odessa. Während es bei den Odessiten immer um die Freundschaft, die Liebe und dann wieder die Freundschaft ging, waren die Toasts aus Lwiw den Helden gewidmet, dem Vaterland, der Ehre.

Einer der Männer sah mit seinen glatt zur Seite gegelten schwarzen Haaren aus wie der Protagonist aus einem schlechten Hitler-Film. Nach seinem Toast brüllte er: „Slawa Ukraini, herojam slawa!“ – „Ehre der Ukraine, Ehre den Helden!“ Und dann brüllten alle Gäste das alles noch einmal im Chor. Die Studenten aus Odessa guckten ein bisschen betreten, dann kippten alle den braunen, ukrainischen Wodka runter, und alles war wieder gut. Zhenja schienen die Gäste aus Lwiw nicht ganz geheuer zu sein. Als sie weg waren, sagte er, dass er ein Patriot sei. „Aber ich bin kein Nationalist. Das ist ein Unterschied.“

In Kriegsbemalung

Im September 2014 postete Zhenja auf Facebook: „Die Hauptstadt ist voller Patrioten, aber die Heimat fühlst du besser im Schützengraben.“ Es folgten Fotos: Zhenja am Schießstand mit Kalaschnikow. Zhenja im Matsch, in Militäruniform, zwischen kargen, blätterlosen Bäumen, drum herum ein bisschen Schnee. Auf den meisten Fotos sitzt Zhenja auf einem Panzer, mal mit Kameraden, mal allein mit Kalaschnikow. Und er spart nicht mit pathetischen Worten. „Nur mit Liebe kann man diesen Krieg gewinnen. Mit der Liebe zum Vaterland.“ – „Die Ukraine wird gewinnen, weil wir – ihre Soldaten – sie von ganzem Herzen lieben.“ Früher oder später werde Russland verstehen, dass es besser ist, „in Freiheit zu sterben, als in Ketten zu leben“. Die ukrainischen Facebook-Freunde applaudierten über den Like-Button und die Kommentarfunktion. Die meisten hatten längst ihre Profilbilder geändert. Frauen, die sich sonst körperbetont in kurzen Röcken auf ihren Profilen präsentierten, posteten Fotos, die zeigten, wie sie sich blaue und gelbe Streifen, die Nationalfarben, auf die Wangen pinselten. Eine Kriegsbemalung. Männer zeigten sich plötzlich mit Waffen. Egal, ob als Soldaten oder nur im Garten der Datscha, beim Schießen auf Flaschen. Jedes Foto, das Zhenja postete, wurde kommentiert: „Kehrt mit einem Sieg zurück!“ „Möge Gott euch beschützen!“ „Mögt ihr Helden alle wieder gesund zurückkehren!“

Im Februar 2015 verlor die ukrainische Armee Debalzewe an die Truppen der Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Ukrainische Soldaten versuchten, sich in Richtung Artemiwsk in Sicherheit zu bringen. Sie nahmen eine letzte noch offene Straße, die jedoch schon unter dem Beschuss von Artillerie und Panzern lag. Die ukrainischen Militärs standen schwer in der Kritik. Man habe nicht erkannt, wie der flaschenförmige Frontvorsprung bei Debalzewe die Separatisten zu einer Zangenbewegung regelrecht eingeladen habe. Das Oberkommando befiel offenbar Angst, die Truppen zurückzunehmen, weil ukrainische Hardliner die Offiziere dann als Verräter beschuldigt hätten. Irgendwann behauptete Präsident Petro Poroschenko, es seien bereits mehr als 80 Prozent der eingekesselten Soldaten in Sicherheit – doch es gab Zweifel.

Schließlich war es im August 2014 in Ilowajsk unter ähnlichen Umständen zu einer Katastrophe gekommen. Tausende Ukrainer waren auch dort eingekesselt, etwa 1.000 von ihnen kamen Schätzungen zufolge ums Leben. Nun schien es so, als würden in Debalzewe die Fehler von damals wiederholt.

Am 13. Februar 2015 ernannte Poroschenko persönlich den Kommandeur von Zhenjas Einheit – der 128. Gebirgsjäger-Brigade – zum „Helden der Ukraine“. Zhenja war um diese Zeit bereits mitten im Kessel von Debalzewe, umringt von Gegnern. Er schrieb am Tag der Ehrung seines Kommandeurs auf Facebook: „Danke, Herr Präsident“, dann gab es noch einmal ein paar Sätze über die Liebe, danach nichts mehr.

Er hat es nicht geschafft, Anfang März wurde er in seiner Heimatstadt beerdigt. Seine Facebook-Freunde übertrafen sich gegenseitig mit pathetischen Worten. Sie feierten ihn als „außergewöhnlichen Patrioten“, als „echten Helden“, der „dem Volk mit seinem Leben das Teuerste gegeben“ habe. „Man sagt, dass Helden nicht sterben, aber sie sterben jeden Tag“, schrieb einer. „Es sind so viele, dass nicht einmal mehr alle in unserer offiziellen Statistik auftauchen.“

Ich gehe noch einmal die persönlichen Nachrichten von Zhenja durch und lese den letzten Satz seiner letzten Nachricht: „Ich habe diesen Krieg so satt!“

Tobias Schmidt ist Fachzeitungsredakteur und hat die Ukraine mehrfach besucht

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