Die offene Gesellschaft und ihre Wärter

Kulturkritik Im Netz und anderswo formiert sich ein neuer Moralismus, der Verstöße gegen seine Werte nicht duldet

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Es gibt bekanntlich für die Medien nichts, was sich in seiner Großartigkeit mit einem ordentlichen Sturm vergleichen ließe. Weil es ein Unding wäre, den Menschen die immergleichen Bilder von umgeknickten Strommasten und zerstörten Häusern auch nur einmal vorzuenthalten, ein eklatanter Verstoß gegen das allgemein anerkannte Menschenrecht auf Voyeurismus, darf natürlich über keinem Katastrophengebiet eine Flotte kamerabewährter Helikopter fehlen. Die Abgeklärtesten in den Reihen der todesmutigen Katastrophenjournalisten lassen sich in schöner Regelmäßigkeit bei ihren possierlichen Versuchen filmen, vor der dramatischen Kulisse aufgepeitschter See und dunkler Wolkendecke gegen die geballte Kraft des Windes die geballte Kraft ihrer Stimmbänder zu setzen.

Wenn aber gerade kein echter, vernünftiger Sturm greifbar ist, dann tut es zur Not eben auch einer im Wasserglas.

Auf diese besondere Art von Kleinstunwetter hat sich mittlerweile ein eigener Zweig der internationalen Empörungsindustrie spezialisiert. Seine Mitarbeiter lassen sich bevorzugt zumindest zeitweise in heruntergekommenen Drecksvierteln nieder, um dort mit dem staunenden Blick des Zoobesuchers der urwüchsigen Lebensweise der indigenen Anwohner und dem Charme des Elends ihren Respekt zu zollen. Geschult an den Klappentexten sämtlicher Werke Foucaults und Butlers sind sie zumeist sehr beschäftigt, doch wenn zwischen Food Blogging und der nächsten Folge von „Girls“ mit Lena Dunham noch etwas Zeit bleibt, dann setzen sie sich bevorzugt mit Politik auseinander oder zumindest mit dem, was sie dafür halten.

Die Avantgarde der postmodernen Subversion spricht denn auch aus einem Gefühl der moralischen Überlegenheit heraus, wie man es sich einzig durch den regelmäßigen Besuch veganer Szeneläden und den maßvollen Genuss fair gehandelter Sojaschnitzel erwirbt.

Es ist eine Gemeinschaft der Unbestechlichen, „aware“ und „conscious“ gegenüber den Missständen dieser Welt, die statt einer schicken Lederhandtasche lieber eine kritische Attitüde zur Schau trägt, mit der sie sich über die Masse unbewussten und unerleuchteten Durchschnittskonsumenten weit erhebt. Hinter jeder glatten Fassade, das wissen sie genau und da lassen sie sich auch nichts vormachen, versteckt sich deren hässliches Gegenteil, die dunkle Wahrheit, die andere nicht sehen wollen und zu deren Entdeckung es eines gesellschaftskritischen Adlerblicks bedarf.

Den wachsamen Augen der hippen Sittenwächter entging dann auch nicht ein vermeintlich harmloser Text, den die Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling vor einiger Zeit im Internet veröffentlichte. Rowling kann, ganz ähnlich wie lange Zeit „Star Wars“-Regisseur George Lucas, einfach nicht ablassen von der einen großen Schöpfung, der sie alles zu verdanken hat. So werkelt sie denn online auf „Pottermore“ weiter an ihrem Fantasykosmos und veröffentlicht dort von Zeit zu Zeit kürzere Geschichten oder Abhandlungen über dieses und jenes. In diesem einen Fall hatte sie sich vorgenommen, eine Geschichte des magischen Amerika zu verfassen; eine vielleicht längst überfällige Entscheidung, war doch das Potterversum bisher so durch und durch britisch gewesen, obwohl die Fangemeinde auf der anderen Seite des großen Teichs die einheimische Anhängerschaft zahlenmäßig deutlich überragen dürfte.
Es ist die eine Frage, warum so viele Autoren das eigene Werk nicht in Würde altern lassen können und sich stattdessen in einer unermüdlichen Leichenfledderei und andauernden Verschlimmbesserung ergehen. Statt sich aber um solche Trivialitäten zu kümmern, stürzte sich die digitale Intelligenzija sogleich auf etwas sehr viel Gravierenderes: Die ach so harmlose Alternativhistorie entpuppte sich bei schonungsloser Analyse als rassistisches Machwerk!

Die Vorwürfe sind derweil fast so zahlreich wie die Ankläger, die sich umgehend über diverse Blogs und Foren gebührend zu echauffieren begannen:

„J.K. Rowling's History of Magic in North America Was a Travesty From Start to Finish“ hieß es zum Beispiel auf dem technikaffinen Blog Gizmodo im plärrenden Sound gerechter Entrüstung.

Rowling hatte unter anderem die Dreistigkeit besessen, von einer „Native american wizarding community“ zu schreiben, die schon lange vor der Entdeckung (pardon, „Entdeckung“) Amerikas zu ihren europäischen Kollegen Kontakt hatte. Diese ominöse Community kann aber gar nicht existiert haben, denn die Ureinwohner waren ja eben keine homogene Masse und ihre Diversität so still und heimlich einfach unter den Tisch zu kehren, so der Tenor, grenzt praktisch an verbalen Genozid.

Auch die amerikanische Huffington Post veröffentlichte einen Text, den man ohne große schwerwiegende intellektuelle Abstriche hinzunehmen auch gänzlich durch das Bild eines erhobenen Zeigefingers hätte ersetzen können. Rowling, so hieß es hier, „relied on worn-out stereotypes that erase tribal distinctions, ignore the true cultures and traditions of different nations, and reinforce conceptions of Native American people as mystical beings rather than real people who continue to exist today.“

So geht es natürlich nicht.

Noch schwerer wiegt freilich nur der Vorwurf der „cultural appropriation“. In ihrer grenzenlosen Ignoranz maßte sich Rowling nämlich auch noch an, eine eigene Erklärung für sagenumwobenen „Skin-walkers“ zu Protokoll zu geben. Im Glauben vieler indianischer Stämme existieren Hexen mit der Fähigkeit, sich in ein Tier zu verwandeln. Rowling erklärt diese Menschen schlichtweg zu Animagi, denn so heißen wiederum in ihren Romanen Hexen und Zauberer mit eben dieser Fähigkeit.

Die fiktiven Annalen auf Pottermore verquicken hier wie auch an anderer Stelle – etwa, wenn sie auf die berüchtigten Hexenprozesse von Salem zu sprechen kommen – historische Fakten mit Legenden und purer Fiktion aus Rowlings eigener Herstellung. Genau damit aber musste sie den Zorn der Political Correctness – Partisanen auf sich ziehen, die ganz in der Tradition eines knallharten moralischen Puritanismus Kunst und Populärkultur nur noch auf Basis ihrer Sittlichkeit beurteilen wollen.

Die Kritik dieser Leute besteht allein darin, dass Rowling als weiße Frau gewagt hat, indianisches Kulturgut anzutasten. Denn bekanntlich genießt eine jede ethnische Gruppe – ganz besonders aber die diskriminierten, bemitleidenswerten und irgendwie putzigen Völkerschaften – ein kollektives Exklusivrecht an jedwedem Element ihrer eigenen Kultur bis hin zu ihren Überlieferungen. Wenn jemand wie Rowling sich nun solcher Dinge bedient, ist das gemäß dieser Logik ein übergriffiger Akt, ein Einbruch in die denkmalgeschützte Idylle des geistigen Lebens der Native Americans und als solcher muss er von den anständigen Bürgern der Netzrepublik zur Anzeige gebracht werden.

Es handelt sich hierbei leider nicht um einen kuriosen Einzelfall. Symptom für die Renaissance eines neuen ästhetischen Spießertums ist auch der andauernde Hype um den an sich völlig banalen Bechdel-Test für Spielfilme. Der Test, popularisiert von der Netzfeministin Anita Sarkeesian, wird von vielen als eine Art Detektor für Frauenfeindlichkeit im Film verstanden. Er beurteilt Filme danach, ob mindestens zwei Frauenrollen existieren, die weiblichen Figuren sich nicht nur mit männlichen Aketuren unterhalten, sondern auch untereinander Dialog haben und schließlich noch danach, ob es denn in diesen Gesprächen um etwas anderes geht als Männer. So undifferenziert die Methode auch ist und so wenig sie über die tatsächliche Qualität ihres Untersuchungsgegenstand aussagt, so ungebrochen ist auf Seiten berufsoptimistischer Pseudofeministen und anderer Scheinriesen des Emanzipationsdiskurses der feste Glaube an die Eignung dieses fragwürdigen Instruments als Barometer für popkulturelle Geschlechtergerechtigkeit. An der Seelenlosigkeit der vielen CGI-überlasteten Bombastspektakel des zeitgenössischen Blockbusterkinos nehmen sie indes keinen Anstoß, solange diese öden, glatten Konservenwelten aus dem Computer nur nicht länger das ausschließliche Habitat weißer, heterosexueller Männlichkeit bleiben, sondern ihre Pforten auch für andere öffnen.

Von Klassenkampf und Ausbeutung will man derweil lieber nichts mehr wissen oder wusste noch nie davon; Ungerechtigkeit reduziert sich auf Verstöße gegen die Moral einen diversifizierten Kapitalismus, der jetzt auch nichts mehr gegen arbeitende Frauen einzuwenden hat und sich nach Kräften um die zumindest symbolische Integration von Minderheiten bemüht. Sie alle sollen sich inkludiert fühlen in die lauwarmen Fluten des Mainstreams, bevor sie noch merken, dass die sozioökonomischen Realitäten dann doch eine andere Sprache sprechen.

Das Gerede von der „cultural appropriation“ offenbart dann auch schnell den reaktionären Kern, den das sonstige progressive Blendwerk nur ummantelt. Dem eigenen Bekunden nach mag es immer um die Befreiung der Unterdrückten, das Zelebrieren („celebrate“ gehört zu den Lieblingsverben dieses Milieus) von Unterschiedlichkeit und das Aufbrechen einer weißen, patriarchalen Hegemonie gehen, tatsächlich aber werden die alten Grenzen nur gesprengt, um schnell und leise neue Mauern aufzurichten. Wenn eine weiße Autorin sich aus Respekt nicht an „aneignen“ darf, was eine andere Kultur geschaffen hat, dann ist das ein kaum verhohlenes Bekenntnis zu einer Gesellschaft, in der jede Farbe des kunterbunten Regenbogens nur so lange als Teil des Ganzen geduldet wird, wie sie die anderen nicht weiter belästigt. Für alles und jeden kann es einen Platz geben im toleranten Miteinander, nur sollte doch dann bitte auch jeder dort bleiben, was und vor allem wo er es ist.

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