Königsmord zur Tea Time

Jeremy Corbyn Während die Tories Großbritannien kurz und klein regieren, droht in der Labour Party ein Aufstand der Unanständigen

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Jeremy Corbyn als Bad Boy?
Jeremy Corbyn als Bad Boy?

Foto: Christopher Furlong/AFP/Getty Images

Die europäische Sozialdemokratie existiert im 21. Jahrhundert im Wesentlichen als Gerücht. Irgendwann zu Beginn dieses Jahrtausends kaperten eloquente Marktkonformisten die abgetakelten roten Wracks, die bis dato noch als ihre letzten Überbleibsel orientierungslos im Meer trieben. Nach Eroberung des Kommandos ließ man sogleich die weißen Fahnen hissen und bemühte sich nach Leibeskräften, den nicht mehr vorhandenen Spalt zwischen sich selbst und den Konservativen mit ein paar Lippenbekenntnissen zum Sozialstaat zu kaschieren, den man parallel dazu diskret, aber gründlich, im Meer entsorgte. Wer sich heute Sozialdemokrat nennt, der ist in der Regel keiner und versteht auch nicht, was das Prädikat bedeutet, das er sich da anheftet.

Das gilt natürlich im Besonderen für die Merkel-Kollaborateure aus Deutschland, denn schließlich war die hiesige Sozialdemokratie immer schon gleich an vorderster Front mit von der Partie, wenn es Idealen abzuschwören und Prinzipien zu verraten galt. Doch so sehr die SPD auch momentan wieder die Avantgarde des sozialdemokratischen Opportunismus in Europa markiert, die letzte Etappe im Zerfall wurde doch im Vereinigten Königreich eingeleitet.

Es ist daher mehr als nur ein kleines Wunder, dass sich ausgerechnet dort, von wo aus der ganze faule Zauber der Neuen Mitte sich kreuz und quer in alle Richtungen, nun doch ein Ruck durch die Reihen der Labour Party gegangen ist, die im vergangenen Jahr zum allgemeinen Schrecken und Grausen nicht nur der Konservativen den langjährigen Fraktionsquerulenten und sozialistischen Überzeugungstäter Jeremy Corbyn an ihre Spitze wählte.

Lange Jahre hatte Corbyn von den hinteren Rängen des britischen Unterhauses aus seiner eigenen Partei bei der Degeneration zusehen müssen, ertrug Zumutungen wie Tony Blair, das smarte, erfolgreiche Gewinner-Gesicht des sozialdemokratischen Neoliberalismus und seine weniger smarten, weniger erfolgreichen Nachfolger. Jetzt aber ist er unverhofft selbst an der Reihe. Die Entwicklungen, die sich seit Corbyns Wahl durch Parteibasis und Sympathisanten entsponnen haben, sind schon bemerkenswert: In Rekordzeit formierte sich in Politik und Medien eine panische hyperventielierende Allianz, die sich schon während seiner Kandidatur um den Labour-Vorsitz in apokalypatischen Fantasien erging und in den schillerndsten Farben schaurig-schöne Endzeitpanoramas vom Vereinigten Königreich unter der Knute der Roten Gefahr zeichneten, um so den „rückwärtsgewandten“ Mann mit Bart und Schiebermütze auf eine sehr unfeine englische Art zu diskreditieren. Sogar Tony Blair selbst sah sich gezwungen, aus dem politischen Jenseits heraus zu intervenieren, sah er doch plötzlich sein Vermächtnis in Gefahr. Corbyns Poltik bestünde doch nur aus Märchen, tönte er und man sollte den Mann durchaus ernst nehmen, hat er doch selbst als professionelller Märchenonkel und Geschichtenerzähler vorzuweisen einige durchaus beeindruckende Referenzen vorzuweisen.

Im harten Kopf-an Kopf-Rennen um den dümmlichsten Kommentar legte dann postwendend niemand Geringeres als Premierminister David Cameron nach, der sich auf diesem Feld bereits beachtliche Verdienste erworben hat und in dessen Person der halbherzige Rechtspopulismus eines Horst Seehofer auf unheilvolle Weise mit dem nadelgestreiften Snobismus der Marke FDP verschmilzt.

Cameron griff zu einer sicheren Methode und erklärte die Labour Party unmittelbar nach Corbyns Wahl schlichtweg zur Gefahr für die nationale Sicherheit, weil der gestandene Antiimperialist den nuklearen Kronjuwelen seines Landes nicht allzu abgewinnen kann – eine Position, die selbstredend die Grenzen aller Vernunft überschreitet und völlig unerhört ist. Im Vereinigten Königreich nämlich ist es erfolgreich gelungen, den Menschen einzureden, nur mit der ultima ratio des Nuklearschlags in der Hinterhand dürfe man sich in der unsteten Welt des 21. Jahrhunderts noch sicher fühlen. Bekanntlich würde das friedliebende Inselreich umgehend von der übermächtigen Koalition seiner zahlreichen Tod- Erb- und Erzfeinde (Argentinien, evtl. Frankreich?) ausgelöscht, sollte es sich jemals seines atomaren Waffenarsenals entledigen.

Dass diese Überzeugung bei vielen Briten common sense ist, verdankt das politische Establishment nicht zuletzt dem unermüdlichen Einsatz der vielen kleineren und größeren medialen Kläffer im Lande, von denen nicht wenige an der kurzen, straffen Leine Rupert Murdochs hängen, dessen unbescholtenes Imperium bekanntlich keine Mühen (nicht einmal den gelegentlichen Bruch von geltendem Recht und Gesetz) scheut, um seinem Publikum bestrecherchierten und objektivsten Journalismus zu bieten. Die Wachhunde Tory-Britanniens gehören dabei zu der besonders unsympathischen Sorte, die von Briefträgern tendenziell gemieden wird und schon mit dem Bellen beginnt, alsbald am anderen Ende der Straße jemand einen Fuß auf den Asphalt zu setzen wagt.

Bereits Corbyns Vorgänger Ed Miliband war ihnen suspekt, vertrat er doch so etwas wie den gemäßigten Flügel des Labour-Neoliberalismus und musste deshalb als Häretiker ein angemessenes Maß an Verachtung über sich ergehen lassen. Corbyn nun finden einige von ihnen so grässlich, dass sie ihn schon fast wieder gern haben, klammern sie sich doch siegesgewiss an die alte britische Bauernregel, wonach Labour mit einem linken Spitzenkandidaten niemals den Premierminister stellen wird.

Die ärgsten Feinde Corbyns lauern momentan denn auch nicht in der Conservative Party, sondern in den eigenen Reihen, wo es plötzlich vor großspurigen Ränkeschmiedern und Königsmördern nur so wimmelt. Man fragt sich doch, woher sie alle kommen, die Schäumenden und Tobenden, die eigentlich nicht identisch sein können mit jener Selbsthilfegruppe der Rückgratlosen, die in den vergangenen Jahren in relativer Eintracht zu jedem Frontalangriff auf den Wohlfahrtsstaat kreuzbrav Ja und Amen sagte. Die Neue Mitte, die doch bitte nichts zu tun haben möchte mit Radikalen oder irgendeiner Agenda, die nicht wie ihre eigene auf dem harten Boden der Tatsachen steht, sie hat sich binnen weniger Monate in einen wütenden Mob verwandelt, der die Entmachtung durch die fehlgeleiteten Schäfchen von der eigenen Parteibasis nicht kampflos hinzunehmen gedenkt. Es ist, als hätte man der fetten Nachbarskatze zum ersten Mal das tägliche Leckerli verwehrt und aus dem sonst so trägen, faulen Tier damit eine fauchende Bestie gemacht, die sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ihrer Krallen bewusst wird.

Eine Abgeordnete ließ Corbyn angeblich wissen, sobald er der Partei mehr schade als nütze, da werde sie nicht zögern, ihn "zu erdolchen". Man merkt hier doch, dass es dem ein oder anderen noch an wichtigen Erfahrungswerten in der hohen Kunst des Stühlesägens mangelt, denn der Profi weiß natürlich, dass er seine Mordphantasien mindestens bis zur Ausführung der Tat möglichst für sich behalten sollte. Andererseits ist natürlich noch kein Meister vom Himmel gefallen. Die besagte Abgeordnete fügte noch hinzu – ob und wie viel Alkohol bei besagtem Interview im Spiel waren, wird wohl ihr Geheimnis bleiben – sie werde ihm aber immerhin von vorne in die Brust stechen und nicht etwa kaltblütig von hinten erstechen. Von vorne und mit offenem Visier, wie es spätestens seit Brutus und Caesar zum guten Ton gehört, ja, so viel Ritterlichkeit und Fair Play ist für die sogenannten moderaten Elemente innerhalb der Labour Party natürlich eine zivilisatorische Selbstverständlichkeit. Ihre maßlose Engelsgeduld wird jedoch immer wieder auf harte Proben gestellt, denn im Gegensatz zu ihnen arbeitet ihr neuer Parteivorsitzender mit bösen Fouls und Tricks.

Selbst Weihnachten war ihm offenbar nicht heilig genug, um seiner sinistre Strippenzieherei zu unterbrechen und so ging denn die schockierende Kunde durchs Land, viele Labour- Parlamentarier hätten sich kaum am Zauber der Feiertage erfreuen können, warfen doch unschöne Gerüchte einer bevorstehenden Säuberung ihre dunklen Schatten voraus. „Corbyn ruinierte mein Weihnachtsfest!“, so klagten sie empört an und ließen alle Welt wissen, dass sich hinter der trügerischen Fassade des freundlichen Herrn im vorgerückten Alter in Wirklichkeit ein heimtückischer Stalinist und – was noch schwerer wiegt – ein weihnachtshassender Misanthrop und Grinch verbirgt, der unschuldigen Untergebenen mit Vorliebe die schönste Zeit des Jahres gründlich verdirbt.

Corbyn stellte seinen despotischen, ja dezidiert antipluralistischen Führungsstil bereits eindrucksvoll unter Beweis, indem er, der erklärte Pazifist, für die Abstimmung über eine ein Bombardement Syriens die Fraktionsdisziplin aufhob und somit den Abgeordneten selbst die Entscheidung über ihr Abstimmungsverhalten überließ. Es bleibt abzuwarten, wie lange dieser autoritäre, völlig aus der Zeit gefallene Führungsstil für die freiheitsliebenden Pragmatiker in der Fraktion noch erträglich sein wird. Erst jüngst erreichte die Konfrontation zwischen Blairisten und Corbynistas einen weiteren Höhepunkt, als Jeremy Corbyn eine Umbildung seines Schattenkabinetts vornahm und dabei seinen Gegnern gehörig vor den Kopf stieß, die für alle Fälle die eigene Stirn sehr dicht an der seinen positioniert hatten, sodass er ihre sorgengeplagten Häupter eigentlich gar nicht verfehlen konnte. Die Presse in ihrer analytischen Präzision wusste sofort zu sagen, dass es sich keineswegs um irgendeine Umbildung handle, sondern um einen gepfefferten „revenge reshuffle“, der sich eindeutig gegen die verbliebenen Stimmen der Vernunft in den oberen Etagen der Partei richtete.

Wie eine schlechte Seifenoper mit überkonstruierter Handlung schleppt sich der Labour-Richtungsstreit auf diese Weise voran und generiert dabei immer wieder Mal eine brauchbare Schlagzeile für die begierigen Schlünder der Yellow Press und man bemüht sich, in möglichst kurzen Abständen neues Öl ins prasselnde Feuer zu gießen. Sehr originell etwa der Vorschlag, die Mehrheit der Labour-Fraktion könnte sich einfach von der Partei trennen, ein Vorschlag, der vielen Abgeordneten ein politisches Utopia auf Erden verspricht: Endlich kappt der rote Heißluftballon seine letzten Verbindungen zum infantilen Pöbel an der Basis und schwebt künftig vogelfrei und unbehelligt von den Einmischungen der Ewiggestrigen durch den Rest der Legislaturperiode.

Hunde, die bellen, beißen nicht, so heißt es, aber der Urheber dieses Zitats hatte eindeutig Kreaturen von einer gewissen Restintelligenz vor Augen, die bei den Anhängern dieses Ancien Régime nicht so ohne Weiteres vorausgesetzt werden darf. Sollten sie also eine Spaltung von Labour riskieren, auch wenn davon am Ende niemand profitieren würde – sie selbst möglicherweise am allerwenigsten? Werden sie der Partei irgendwann den Gefallen tun, sich stillschweigend in die innere Emigration abzusetzen? Fest steht, dass die innere Zerrissenheit kein Dauerzustand sein kann, wollen sich die Beteiligten nicht irgendwann unter die 30-Prozent-Marke streiten.

Vielleicht sollte Corbyn tatsächlich versuchen, seinem neuen Image als herrschsüchtiger Bad Boy der britischen Politik gerecht zu werden und nicht weiter versuchen, Kritiker zu besänftigen, die sich nicht besänftigen lassen werden, weil dem ihre ideologische Borniertheit im Wege steht. Es ist jetzt seine Partei, seine und die seiner Unterstützer. Wer das nun partout nicht zu akzeptieren bereit ist, dem sollte Jeremy Corbyn vielleicht einfach höflich, aber bestimmt, den Weg zur Tür weisen. Vorausgesetzt, sie finden ihn nicht selbst.

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