Attraktiver als der Potsdamer Platz, nur nicht so erfolgreich

MASTERPLAN Beiruts Innenstadtbezirk ist ein noch nicht eingelöster Wechsel auf die Zukunft

Es herrscht Aufbruchstimmung in Beirut. Zehn Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs treffen auf dem Flughafen, der um eine neue, weit ins Meer reichende Landebahn erweitert wurde, immer noch erwartungsvolle Rückkehrer ein. Die Straßen vibrieren vor Leben. Schwarze Limousinen wetteifern mit schnittigen Sportwagen um Aufmerksamkeit; junge Männer in Designeranzügen spiegeln sich im Lack ihrer Karossen. Nach dem letzten Schrei gekleidete glutäugige Levantinerinnen flanieren die Hamrastraße entlang, deren Bürgersteig mit Sternen á la Sunset Boulevard verziert ist. Jogger machen sich unweit der Amerikanischen Universität auf dem malerischen Uferboulevard Corniche fit für den Alltag. Die Corniche ist die einzige größere Straße, die von Baumaschinen unbehelligt bleibt. Überall sonst Absperrungen, Baustellen, Lagerplätze für Baumaterial. Auch die von Scharfschützen geschaffene Schneise, die während des Krieges das Stadtzentrum zum Truppenübungsplatz machte und Beirut in den christlichen Osten und den muslimischen Westen zerschnitt, wächst langsam mit Gebäuden zu.

Dort, wo die einstige Linie des Todes auf das Meer trifft, entsteht seit zehn Jahren das neue Herz der Stadt. Erstmals in der jüngeren Geschichte der Hauptstadt, in der circa die Hälfte der knapp vier Millionen Libanesen lebt, wird ein städtebaulicher Masterplan umgesetzt, der Rekonstruktion und Neubau mit großflächiger Infrastrukturplanung vereint. Noch hallt der Lärm von Presslufthämmern und Betonmischern durch die weiten, leeren Straßen. Bauarbeiter werkeln hier und dort, scheinbar bewacht von Soldaten. Deren Präsenz ist jedoch dem neuen Parlamentsgebäude und diversen Ministerien geschuldet. Das Gebiet um die Place de l'Etoile, in der französischen Mandatszeit (1920-45) nach bewährtem Pariser Muster angelegt, erstrahlt schon in neuer Pracht. Alles scheint bereit, damit Beirut wieder zum "Paris des Ostens" wird, als das es in den sechziger und siebziger Jahren besungen wurde. Damals waren europäische Reisende beeindruckt vom Komfort der Hotels, dem überwältigenden Angebot an Bars, Theatern, Straßencafés und Spielsalons. Die Atmosphäre war freizügig, libanesische Frauen kleideten sich europäisch und parlierten mehrsprachig. Ölscheichs unterbrachen ihren Sommerurlaub in den kühlen libanesischen Bergen für Bordellbesuche und Geschäfte in den Beiruter Banken.

Die goldene Zeit will sich jedoch partout nicht einstellen. Auch eine Woche, einen Monat später verirren sich nur wenige Touristen in Beiruts Zentrum. Vereinzelte Baugeräusche geraten zu Symptomen der Hilflosigkeit. Viele Gebäude seien seit Jahren fertig, heißt es. Sie sind Kulissen eines euphorisch versprochenen Aufschwungs, der Jahr für Jahr auf sich warten lässt. Zwar seien die Ladenpassagen zu 100 Prozent verkauft und vermietet, behauptet berufsoptimistisch Nabil Rached, Pressesprecher der Entwicklungsgesellschaft SOLIDERE (Société Libanaise pour le Développement et la Reconstruction du Centre-Ville de Beyrouth). Aber ein paar Designerläden schaffen noch kein pulsierendes Stadtzentrum. Das wissen auch die beiden Masterplaner von SOLIDERE, Angus Gavin und Oussama Kabbani.

Beide haben ihr Büro in den bereits rekonstruierten Häusern. Sie sind mit der täglichen Leere konfrontiert. Ihr Beruf als Stadtplaner lässt sie dieses Dilemma wegstecken. Stadtplaner rechnen - anders als eine im Jetzt lebende Bevölkerung - nicht in Jahren, sondern Jahrzehnten. Der Brite Angus Gavin, als Entwickler unter anderem in den Londoner Docklands und im nahöstlichen Las Vegas von Dubai tätig und jetzt strategischer Berater bei SOLIDERE, spricht von 25 bis 40 Jahren, bis Beirut wieder eine moderne, lebendige Großstadt ist. Man dürfe die Rückschläge nicht vergessen. Der Golfkrieg zog bereits für den Libanon avisierte arabische Petrodollar ab. Die 1998 an die Macht gekommene Regierung blockierte bis vor kurzem die Projekte ihrer Vorgänger. Gravierend ist die Verzögerung bei den neuen Souks (Architekt Rafael Moneo), die schon in diesem Jahr ihre Magnetwirkung entfalten sollten, nun aber frühestens 2002 fertiggestellt werden. Wegen des anhaltenden Kriegszustandes halten sich ausländische Investoren bedeckt. In der Vergangenheit konnte man sich darauf verlassen, dass die israelische Luftwaffe Beirut regelmäßig einmal pro Jahr in die Prä-Edison-Ära zurückbombte. Und auch man selbst habe Fehler gemacht, gesteht Kabbani. "SOLIDERE war anfangs zu mächtig". Weder der im Aufbau befindliche Staatsapparat noch die Öffentlichkeit waren stark genug, die "Bestie" SOLIDERE zu zähmen.

Es hatte alles ganz schnell gehen sollen zu Beginn der neunziger Jahre. In Ermangelung eines libanesischen Marshallplans öffnete Rafiq Hariri, erster Nachkriegspremier und schwerreicher Bauunternehmer, seine Privatschatulle und gründete die Gesellschaft zum Wiederaufbau des Stadtzentrums mit dem philantropisch klingenden Namen. Die Aktiengesellschaft (Kapital ca. 1,8 Mrd US-Dollar) wurde Eigentümer des Stadtzentrums, also von 1,8 Mio. m2 Land, von denen 600.000 m2 dem Meer abgerungenes Neuland sind. Die Kritik, dass hiermit die libanesische Bevölkerung "enteignet, entmachtet und ausgebeutet" werde (Rodolphe el-Khoury), verpuffte angesichts der Allmacht Hariris als Staatschef und de facto-Eigentümer von SOLIDEREs. 1992 wurde die allgemeine "Baufreiheit" erklärt. Über 600 Gebäude, die zum Großteil sanierungsfähig waren, wurden daraufhin beseitigt. Die "zivile" Zerstörung mit Bulldozern und Sprengstoff übertraf die Kriegsschäden; Bauunternehmer wurden zu Nachahmern der Artilleristen, Bautätigkeit die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Damit war die Grundlage für die heutige gespenstische Leere in der Innenstadt geschaffen. Zudem mussten die Bewohner der verbliebenen circa 300 Gebäude ihr Obdach verlassen. Einige ältere Herren fanden sich noch wochenlang nach der Zerstörung ihres Cafés an gewohntem Ort ein. Sie stellten ein paar Stühle zusammen und kochten auf offenem Feuer ihren Tee. Heute bedauert Gavin den Abriss.

Aufgeschreckt durch die gefräßige Machtmaschine SOLIDERE wollte eine engagierte Gruppe von Denkmalsschützern (APSAD, Association pour la Protection des cités anciennes demeures) wenigstens rund um die neue Innenstadt das architektonische Erbe schützen. 1.200 Gebäude wurden 1996 nach historischen, architekturgeschichtlichen und städtebaulichen Kriterien in eine entsprechende Liste aufgenommen. Unter dem Druck der Hausbesitzer, die aus wirtschaftlichen Gründen an einem vielstöckigen Neubau interessiert sind, reduzierte das Kulturministerium mit fadenscheinigen Manövern diese Liste auf derzeit 220 Gebäude. Die Architektin und APSAD-Mitarbeiterin Mona Halat hält ein in New York seit langem bewährtes Verfahren für wirkungsvoll: Eigentümer von denkmalsgeschützten Häusern können Baugenehmigungen für die virtuellen Stockwerke, die zwischen der Gebäudehöhe und der festgelegten Traufhöhe von 40 Metern liegen, an Investoren verkaufen, die an anderer Stelle höher als 40 Meter bauen wollen. Paradoxerweise ist APSAD bei diesem Versuch, historische Bausubstanz zu retten, auf die Kollegen von SOLIDERE angewiesen, die im Gegensatz zu den staatlichen Stellen sowohl über die notwendige Manpower, politisches Gewicht und städtebauliches Interesse verfügen, um einen solchen virtuellen Geschosshandel auch im Einzelfall durchzurechnen.

Das Hirn von SOLIDERE ist schließlich eine Gruppe zumeist blutjunger, hochqualifizierter und -motivierter Stadtplaner, die - hingerissen von städtebaulichen Visionen - die Defizite der allein nach kommerziellen Kriterien wild in die Höhe und Breite geschossenen Stadt ausgleichen will. Es geht Kabbani Co. nicht nur um die Beseitigung von Kriegsschäden; diese Wunden, so schmerzlich sie sind, adeln die Stadt eher. Sie zeigen ihre Verletzlichkeit, ihre Dauerhaftigkeit, die Fähigkeit, Geschichte zu speichern. Beirut schreckt vielmehr ab, weil es ein wild zusammengewürfeltes Agglomerat monotoner Billigbauten ist, das sich ohne Plan, Verstand oder Willen zur Formgebung allein von schierer Notwendigkeit des Immobiliengeschäfts getrieben, ausbreitete.

SOLIDERE bringt Struktur in die Innenstadt. An Grünflächen ist gedacht, öffentliche Plätze und bessere hygienische Bedingungen. Aus der wilden Müllkippe, die sich in Kriegszeiten immer weiter ins Meer fraß, wird ein ehrgeiziges Landgewinnungsprojekt von 600.000 m2 Fläche. Die Gebäude selbst sollten keine wahllos verteilten, austauschbaren Solitaire mehr sein. "Ein Architekt, der nur Durchschnittliches leistet, ist ein Verbrecher", so der in Harvard ausgebildete Kabbani als Dreißigjähriger zu Beginn seiner Tätigkeit bei SOLIDERE. Gleichzeitig seien die Architekten vor dem Profitinteresse der Bauherren zu schützen. SOLIDERE schuf sich eigene Baurichtlinien. Eine Traufhöhe wurde eingeführt, Form und Typ der Gebäude festgelegt. Erdbebensicher müssen die Gebäude sein. Für eine Durchmischung der insgesamt 4,7 Millionen m2 Gebäudefläche ist gesorgt (42 Prozent Wohnungen, 34 Prozent Büro, 8 Prozent Regierungsgebäude, 4 Prozent Hotel, 12 Prozent Geschäfte). Die Infrastruktur ist ausgewogen (33 Prozent der Gesamtfläche ist Straßenland, 16 Prozent öffentlicher Raum, 38 Prozent Neu- und 13 Prozent rekonstruierter Altbau). Zudem stieß man bei den Bauarbeiten auf Überreste des phönizischen, römischen und arabischen Beiruts, deren spektakulärere Teile als großes Freiluftmuseum ins Stadtzentrum eingefügt werden.

Beirut Central District (BCD) ist ein partiell realisiertes Modell, von dem sich Planer Kabbani verspricht, dass es auf die gesamte Bautätigkeit des Landes ausstrahlt. Geradezu elegisch wird er, wenn er den von der Stadt geplanten Bootsterminal beschreibt. Reisende, noch vom Geruch des Meeres umfangen, betreten auf breiten Stufen die Stadt. Sie sind sofort im Zentrum urbanen Lebens. Nach wenigen Schritten entdecken sie römische Säulen und phönizische Uferbefestigungen, blicken auf die vieltausendjährige Geschichte von Berytus. Es ist eine neue Stadt, die bei SOLIDERE entwickelt wird. Das alte Beirut mit seiner einzigartigen Mischung aus Cafés, Nachtclubs, Banken, Bordellen und Handelshäusern wird nicht wieder entstehen, weil die gesamte arabische Welt freizügiger geworden ist und der Libanon damit seiner regionalen Monopolstellung beraubt ist. Finanzielle Transaktionen können die Ölscheichs mittlerweile in Kuwait oder Saudi-Arabien selbst abschließen. In Dubai gibt es mehr Vergnügungsetablissements als in Beirut. Die nahen Berge werden die reichen Touristen erst dann locken, wenn endlich richtiger Frieden herrscht. Beiruts einzige Chance sind seine durchweg englisch-französisch-arabischsprachige Bevölkerung, die Vielzahl von Ingenieuren, Technikern, Bank- und Büroangestellten, Managern und Facharbeitern, jenen qualifizierten Lohnarbeitern, die eine moderne Gesellschaft braucht. Für diesen im arabischen Raum einzigartigen Mittelstand ist BCD gedacht, und für jene zahlungskräftigen Immigranten, die von der weltoffenen Atmosphäre angesteckt sind.

Wie die bisherigen Verzögerungen zeigten, ist selbst die avancierteste Stadtplanung abhängig von dem Umfeld, in dem sie sich entfalten soll. Retribalisierungsprozesse innerhalb der aus einer Vielzahl christlicher und muslimischer Gruppen bestehenden libanesischen Gesellschaft drohen, auch SOLIDERE zum Spielball divergierender Interessen zu machen. Symbolisches Indiz ist das Tauziehen um die historischen Funde: eine Betonung der phönizischen und römischen Funde ließe Beirut als traditionell mediterran-hellenistisch-christliche Stadt erscheinen, während Fundstücke aus fatimidischer Zeit die arabisch-islamische Komponente instrumentalisierten. Und letztlich hat SOLIDERE den Markttest noch nicht bestanden. Keiner weiß, wie stark die hohen Zielvorgaben bei neuen Entwicklungen am Immobilienmarkt korrigiert werden. Dennoch scheint die privatwirtschaftliche Gesellschaft SOLIDERE, die staatliche Entwicklungsaufgaben durchführt, ein praktikables Modell für strukturschwache Nachkriegsregionen zu sein. Oussama Kabbani blickt von Zeit zu Zeit übers Mittelmeer hin zum Kosovo. Eine neue Erfahrung zumindest brächte er mit: Zuerst müsse man öffentliche Gebäude (Museen, Bibliotheken, Theater, auch ein Aquarium) bauen, um ein Entwicklungsgebiet nicht zur Filmkulisse verkümmern zu lassen.

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