Ausbrecher

THEATER HINTER GITTERN An der Berliner Volksbühne trafen sich Knasttheaterprojekte aus ganz Europa

Es gibt sie immer wieder, die Theaterwunder, Aufführungen, in denen man sich nicht mehr zu atmen traut, auf die vorderste Kante seines Sitzes rutscht, der Hals immer länger wird, weil Auge und Ohr unwiderstehlich zur Bühne drängen, um ja nichts zu verpassen, um eingesaugt zu werden in eine Welt wirklicher, lebendiger, in ihrer Kleinheit großer, trotz ihrer Verkrümmung aufrechter und kämpferischer Menschen.

So geschehen während des "Knastfestivals" in der Berliner Volksbühne, als ein Mann vor einer schwarzen Rückwand mit zwei Fotos, getaucht in rotes Licht, über ein Stück sprach: Der schwedische Regisseur und Schauspieler vom Rikstheater Stockholm, Jan Jönson, beschwor, erzitterte, erspielte, erschrie, erflüsterte die Jahre herbei, in denen er Samuel Becketts Warten auf Godot an die Stätte seiner größtmöglichen Wirksamkeit, in die Finsternis schwedischer und amerikanischer Hochsicherheitsgefängnisse hereinbrachte.

Jönson erzählt von einem Anstaltsleiter, der Frank-Sinatra-Songs für "seine" Insassen singt, und dessen schwedischem Kollegen, der Theaterleute, die Gefangenen Fluchtmöglichkeiten eröffneten, in ihren Knast einlädt. Jönson beschreibt, wie er aus 212 superschweren Jungs in St. Quentin, California, in wochenlangem Casting "den" Vladimir, "den" Estragon, "den" Lucky und "den" Boten herausfand. Ein Pozzo war nicht unter den mehr als 200 Männern. Bis einer, den seit drei Jahren niemand ein Wort mehr hatte sprechen hören, der der Welt seit drei Jahren nichts mehr zu sagen hatte, sich Tag für Tag und Zentimeter für Zentimeter näher in den Probenraum hereinschob - und so Pozzo wurde. Jönson berichtet, wie seine Schauspieler um die Wahrheit jeder Textzeile rangen, wie sie nicht weitermachen konnten, wenn ihnen etwas nur "gespielt", behauptet oder konstruiert erschien. Das gute Dutzend Zuschauer, das im Roten Salon der Volksbühne Jönsons nächtliche Zeitreise bis in den Sonntagmorgen folgte, wurde Zeuge einer Menschwerdung; nicht deshalb, weil beispielsweise bei Pozzo (Spoon Jackson) die Wandlung von einem verstummten Lebenslänglichen zu einem Dichter so immens ist. Sondern Menschwerdung, weil in Jönsons Vortrag eine Schönheit erstand, von der alles Falsche und Vage, das so häufig die narzißtische Kunst des Schauspielers begleitet, abplatzte und zerbröselte.

Warten auf Godot war während des Knastfestivals in der Volksbühne, gemeinsam veranstaltet mit der in JVA Tegel tätigen Gruppe "AufBruch" und dem Verein Kunst Knast, weder live noch als Video zu sehen. Vielleicht war es gut so. Womöglich hätte die Inszenierung nicht die Kraft von Jönsons Momentsof Reality gehabt. Und hätte daher die alte Diskussion um das Knasttheater wieder aufgewärmt, ob es sich bei dieser Art des engagierten Theaters denn nun um Kunst oder eher um eine Form der Sozialtherapie handelt? Kann Theater Gefangene resozialisieren, fit für das Leben draußen machen? Dahinter steckt ein merkwürdiges Paradox, denn Theater selbst kann nur überleben, wenn es gefährlich, regellos, also tendenziell kriminell ist. Es kann eigentlich gar nicht anders, als sich mit den Häftlingen zu verbünden, als Domestizierungsinstrument verlöre es seine Kraft.

Angesichts Jönsons Performance verblasste das Moment parallelisierter Ausbruchsversuche aus den Systemen Knast und (Stadt-) Theater zu reiner Koketterie. "Spielen ist Lebensäußerung", bemerkte Volksbühnenschauspieler Herbert Fritsch auf einer Podiumsdiskussion zum Verhältnis von Knast und Theater. Ob Knasttheater wirklich Kunst ist, wird erst dann zum Problem, wenn eine Inszenierung keinen Atem hat, wenn es nicht gelingt, das Leben einzufangen und in eine Form zu bringen. Wenn sie zuviel Kunst will - und ihre Protagonisten nicht mitnimmt. Oder wenn mit hausbackenen Mitteln Einfühlungstheater produziert wird. Dann holt jeden der Knasttheatermacher diese Diskussion ein, ob in Italien, den USA, Polen, Deutschland oder Schweden.

Erst dann schleicht sich die unverbindliche Metaphorik von Kassiber, Flaschenpost und Blick nach draußen in den Vordergrund. Unverbindlich deshalb, weil alle Kunst an den bestehenden Verhältnissen innerhalb der Gefängnisse nichts verändert. Aber immerhin werden durch so ein Festival Informationen öffentlich verbreitet: Trotz sinkender Kriminalitätsrate sitzen hierzulande immer mehr Menschen immer länger im Gefängnis. 10.000 neue Haftplätze werden in den nächsten Jahren in Deutschland gebaut - die neue Boombranche heißt nicht Biotech sondern Gefängnisbau und Überwachungstechnik.

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