Heute gibt es eine Sonderausgabe. Der Giornale di Sicilia stellt alle Mannschaften vor. "Das gesamte Championat, inclusive Fotos", wirbt der Zeitungsverkäufer in der Via Vittorio Emanuele in Zentrum Palermos an diesem Dezembermorgen. Als er den Giornale ausbreitet, ist zu sehen, dass sich über mehrere Seiten ein breiter Fotostreifen zieht, der gedrungene und längliche, faltige und glatte, bärtige und unrasierte Gesichter von Männern zwischen 25 und 80 zeigt. Das "Championat", auf das der Kioskbetreiber anspielt, das sind Honoratioren der Cosa Nostra von Palermo und darüber hinaus.
Am Vortag haben mehr als tausend Carabinieri insgesamt 89 Personen festgenommen, denen vorgeworfen wird, sie wollten nicht nur die "Kommission", das so legendäre wie berüchtigte Instrumentarium des Interessenausgleichs zwischen rivalisierenden Mafia-Gruppen, wieder beleben - sie hätten bereits einiges dafür getan.
Kopf der Medusa
Initiator dieser Neuordnung soll der Altboss Toto Riina sein, haben von der Polizei abgehörte Gespräche ergeben. Riina sitzt zwar seit 1993 in einem Hochsicherheitsgefängnis, gilt aber weiterhin als eine der höchsten Autoritäten im Milieu. Davon ist jedenfalls Italiens oberster Anti-Mafiajäger Piero Grasso überzeugt, der aus seiner Befürchtung kein Hehl macht, die "Kommission" könnte längst "wieder an der Vorbereitung schwerer Delikte gearbeitet haben". Ein Indiz für die Rückkehr der alten Mafia-Herrlichkeit ist für ihn nicht zuletzt der Wiedereinstieg in das an den Clan der Ndrangheta abgetretene Drogengeschäft.
In der Tat waren bereits im Oktober zehn Kilogramm Koka-Paste aus Brasilien nach Sizilien transferiert worden. Das sich anschließende Chemieexperiment in einem Untergrundlabor freilich befriedigte die Mafiosi nicht. Aus den zehn Kilo hatten sie laut Aussagen eines Überläufers, der die Polizei ins Bild setzte, gerade sieben Kilo Kokain gewonnen, was als nicht ausreichend empfunden wurde. Zur Klärung der Sachlage und detaillierter Qualifizierung war daraufhin ein sizilianischer Volontär nach Südamerika geschickt worden. Die Zeit drängte, war doch bereits für Januar die nächste Lieferung, diesmal von 100 Kilogramm Koka-Paste, arrangiert worden. Daraus dürfte nun vorerst nichts werden. Fast eine Hundertschaft Mafiosi muss auf einen Schlag mit der Arrestzelle Vorlieb nehmen.
War die Palermitaner Mafia nach der spektakulären Operation Gotha im Juni 2006 nur noch "auf den Knien" herum gekrochen, wie Ermittler Piero Grasso damals jubelte, kam die Operation Perseus vom 16. Dezember 2008 einem Enthauptungsschlag gleich, ist der Antimafia-Chef aus Rom begeistert. Schon die Bezeichnung der Operation ließ daran keinen Zweifel. Nach der mythologischen Überlieferung hat Sohn Perseus einst den Kopf der Medusa vom Rumpf getrennt. Dass aber der alte Toto Riina aus dem Zuchthaus heraus noch immer die Kontrolle über die sizilianische Medusa gehabt haben soll, dämpft die Freude über den Schlag ein wenig.
Riina gelingt es trotz mittlerweile 15-jähriger Einzelhaft offenbar auch weiterhin, seine Anweisungen ins heimische Territorium zu dirigieren. Seinem Sohn Giuseppe Salvatore, im Februar 2008 nach Verbüßung einer Haftstrafe wieder in Corleone ansässig, hatte er - per Order aus der Zelle - verboten, das Haus zu verlassen. Der 31-jährige "Salvuccio" sollte in keinen Neuordnungskrieg hereingezogen werden.
Und um einen Krieg handelte es sich durchaus. Die eine Fraktion, angeführt vom 64-jährigen Benedetto Capizzi, der seine lebenslängliche Haftstrafe wegen gesundheitlicher Schwächen seit Februar 2008 in Form eines Hausarrests verbringen darf, hatte das Projekt der neuen Hierarchisierung vorangetrieben und selbst mit dem Vorsitz der "Kommission" geliebäugelt. Dem widersetzte sich eine Gruppe um den Boss des Zentrums von Palermo, Gaetano Lo Presti. Der tat dies zunächst verbal, weil nicht unbedingt jeder Konflikt in den Reihen der Cosa Nostra sofort mit Feuerkraft ausgetragen werden soll. Es folgte, was man eher aus basisdemokratischen Bewegungen kennt: Versammlung jagte Versammlung. Mal trafen sich die Lager getrennt, um Strategien zu debattieren, mal wurde ein gemeinsamer Konvent einberufen.
Die Polizei, dank vier klassischer Überläufer gut unterrichtet, hatte heftig zu tun, jeden Termin wahrzunehmen und stets mindestens eine Wanze platziert zu haben. Die Carabinieri waren unter anderem präsent, als sich die Herren des Clans der Capizziani in einer Garage in Bagheria, dem einstigen Stammsitz von Provenzano, trafen. Sie hörten mit bei der Gegenversammlung der Gruppe um Lo Presti in einem Friseurgeschäft von Palermo, und sie taten dies auch Mitte November in Montelepre. In diesem Bergnest, das einst durch den Banditen Salvatore Giuliano berühmt wurde, fand ein Meeting verfeindeter Fraktionen statt, zu dem selbst einige flüchtige Mafiosi erschienen waren. Sie befürchteten augenscheinlich, sie könnten bei der neuen Verteilung von Macht und Einfluss zu kurz zu kommen.
Die Strippenzieher des Treffens von Montelepre waren übrigens Männer, die als Senioren der Szene gelten. Zur Einstimmung fanden sich die Altkader zunächst im öffentlichen Krankenhaus Ospedale Civico von Palermo ein. Die dort tätige Ärzteschaft hatte zuvor mit manipulierten Diagnosen dafür gesorgt, dass die Herren der Jahrgänge 1927 bis 1944 aus Gesundheitsgründen dem Gefängnis entkamen. Danach stellten sie ihren Patienten, die teilweise nur zum Arztbesuch ihre Wohnung verlassen durften, Beratungsräume im Hospital zur Verfügung.
Dass diese Veteranen die Cosa Nostra in Palermo reorganisieren sollten, zeigt zum einen: Das Dasein eines Mafioso folgt lebenslänglicher Berufung. Zum anderen signalisiert das Faktum einen gewissen Personalmangel.
Flügelschlag des Pegasos
Seit dem Schlag vom 16. Dezember sind die Reihen der Cosa Nostra noch stärker gelichtet als zuvor. Aber die totale Entsorgung der Organisation war der Operation Perseus kaum zu verdanken. Wieder erscheint es angebracht, sich der Mythologie zu besinnen: Perseus hatte zwar Medusa enthauptet, aus ihrem blutenden Rumpf entwich jedoch Pegasos, das geflügelte Pferd der Dichter.
Auf Palermo übertragen heißt das, bei der Razzia im Morgengrauen des 16. Dezember sind fünf Männer entkommen, die kaum zu poetischen Ausflügen Anlass geben. Zwei von ihnen wurden zwar 24 Stunden später gestellt. Auf freiem Fuß ist aber noch immer der 27-jährige Gianni Nicchi. Seit 2006 ist der schon im Untergrund. Er war bereits der Razzia Gotha entgangen, bei der sein Mentor Nino Rotolo, damals Regent von Palermo, gefasst wurde. Der wiederum hatte zum Killerkommando gehört, das 1981 die alten Bosse Palermos, Stefano Bontate und Santo Inzerillo liquidierte. Seinem Ziehsohn Gianni Nicchi hatte Nino Rotolo - von Polizeimikrofonen gewissenhaft aufgezeichnet - stets geraten, beim Schießen auf genügend Abstand von den Opfer zu achten. Man bekleckere sich andernfalls nur mit Blut, hatte der erfahrene Killer dem damals 25-Jährigen empfohlen. Inzwischen gilt Nicchi in der Szene als brutaler Killer, so dass ältere Mafiosi voller Respekt von "dem, der auf der Flucht ist", sprechen. Freilich gilt Nicchi auch als Lebemann, es kursiert ein Foto, das ihn in einer superlangen Luxuslimousine auf einer New Yorker Straße zeigt. Ermittler gehen nun davon aus, dass Nicchi demnächst - auch wenn ihn die Polizei weiter jagt - eine noch bedeutendere Rolle in der Cosa Nostra Palermos spielen wird.
Nach dem 16. Dezember gab es in Palermo einen Tag voller Freude. In die Sirenen von Polizeifahrzeugen mischte sich der Jubel vieler Passanten. Als aber ein paar Männer an den eingangs erwähnten Zeitungsstand herantraten, verstummte der Verkäufer, der gerade noch im Begriff schien, voller Triumph die Gefangenenliste der Cosa Nostra zu verkünden, urplötzlich. Sein Gesicht erstarrte zur Maske. Als ich ihn fragte, wer aus seinen Viertel denn dabei sei, wies er nur stumm mit dem Finger auf den Namen Lo Presti, den Mafiachef der Innenstadt. Der hatte sich in der Nacht nach der Verhaftung in seiner Zelle das Leben genommen, vermutlich um zu verhindern, dass die Polizei aus ihm weitere Informationen herausholen konnte.
Nach den jüngsten Ereignissen ist die Mafia in Palermo schwer geschlagen. Eine intensive Phase der Schutzgelderpressung, die sich in den ersten Dezembertagen andeutete, wurde mit der Operation Perseus quasi im Keim erstickt.
Palermos Geschäftsleute atmen auf. Nun liegt es an ihnen, sich aus der ökonomischen Umklammerung der Cosa Nostra zu befreien. Doch nur 300 Unternehmer haben bislang öffentlich bekundet, kein Schutzgeld zu zahlen. 70 bis 80 Prozent der etwa 90.000 Geschäftsinhaber zahlen weiter, vermutet die Polizei. Geschlagen sind Gangster wie Nicchi, Messina Denaro oder Raccuglia erst, wenn sie keine Macht mehr haben, einen Unterschlupf zu fordern, Schutzgeld zu erpressen und Personal zu rekrutieren.
Stein des Sisyphos
Bis es soweit ist, müssen neben den Mafiosi noch Ärzte, die falsche Diagnosen stellen, Behördenmitarbeiter, die öffentliche Ausschreibungen manipulieren, Geschäftsleute, die kriminelle Gelder waschen und Politiker, die sich mit den Stimmen der Mafia wählen lassen und als Gegenleistung für Mafia freundliche Gesetze sorgen, aus dem Verkehr gezogen werden. Immerhin zwei Abgeordnete im Regionalparlament, die ihre Sitze der Mafia verdanken, hat es bei Operation Perseus schon erwischt.
Um vollständig auszumisten, bräuchte es statt des Perseus einen anderen Zeus-Sohn, den Herakles. Dem wäre zu wünschen, nicht das Schicksal des Sisyphos zu erleiden. Die Steine der Anklage bis in die Kammern eines Gerichts zu schleppen und dann zu erleben, wie sie von der letzten Instanz wieder zurück gerollt werden - das ist eine Erfahrung, die in Palermo auch die Nachfolger des legendären Richters Giovanni Falcone machen müssen.
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