Große Schleife

SPORTPLATZ Der bunte Tross rollt wieder durch das gallische Land

Man spürt es bis in die märkische Streusandbüchse, dass der bunte Tross der Tour de France wieder durch die gallischen Lande rollt: Auf Berlins Straßen flitzen auffallend viele Menschen mit Rennrädern und enganliegenden pinkfarbenen Trikots umher, ARD und ZDF können auf gesunde Quoten im Vorabendprogramm verweisen, und selbst an der Bundesbahn geht das größte Sportereignis unseres westlichen Nachbarn nicht spurlos vorüber: Im ICE wurden am Love-Parade-Wochenende nicht nur enervierende Mitteilungen über Verspätungen kundgetan, sondern es wurde auch von der Tour de France berichtet. Die erstaunten Fahrgäste vernahmen, dass der Holländer Erik Dekker eine Etappe gewonnen hatte, Telekomista Alberto Elli weiter in Gelb fuhr und Erik Zabel sich erneut Marcel Wüst geschlagen geben musste. Sofort setzten Spekulationen ein. Fusioniert die Bahn vielleicht mit der Telekom und übernimmt damit auch Verantwortung für den Profi-Radrennstall? Oder handelt es sich nur eine neue Form von Medienpartnerschaft - ein Kumpan macht Wind für den anderen, der sich dann im Umkehrschluss öffentlichkeitswirksam für den einen in die Bresche wirft? Oder ist es schlicht nationaler Stolz, der nach dem fußballerischen Debakel nun im multinationalen Radsportzirkus fröhliche Urständ feierte und flugs den Bahnangestellten zum Sportreporter berief? Schließlich ist Dekker halber Deutscher; gemeinsam mit dem starken Berliner Jens Voigt unternahm er am Vortag einen Ausreißversuch, der erst kurz vor dem Ziel vereitelt wurde. Das Mitleid, das Voigt ob dieses tragischen Ausgangs traf, benetzte auch den Holländer. Noch deutscher als Etappensieger Dekker ist der zwischenzeitliche Spitzenreiter Alberto Elli. Wer für Telekom fährt, ist automatisch deutsch - ohne green card oder ähnlichen Pipifax. Und ganz deutsch, ohne Einbürgerung, ohne Häme ist dieses Jahr der Kampf ums grüne Trikot des punktbesten Fahrers. Dem Telekom-Supersprinter Erik Zabel ist im Kölner Marcel Wüst ein ernsthafter Gegner erwachsen. Bei fast jedem Finish war Wüst schneller als Zabel. Dass letzterer wie all die Jahre zuvor im grünen Leibchen steckt, hat nur damit zu tun, dass Zabel um jedes Pünktchen kämpft, während es Wüst vor allem um die spektakuläreren Etappensiege geht. Ungewiss ist indes, ob Wüst über die Berge kommt und nach Paris gelangt. Zabel hingegen ist im Laufe der Jahre - auf Kosten der Explosivität im Finale - ein erstklassiger Allroundfahrer geworden, der sicher wieder unter dem Arc de Triomphe hindurchfahren wird.

Aber eine Etappe will auch Zabel endlich einmal wieder gewinnen. Drei Jahre ist der letzte Erfolg schon her. Für die Tour 2000 war alles so schön eingefädelt. Zabels härtestem Rivalen der letzten Jahre, Mario Cipollini, hatte Team Telekom den wichtigsten Helfer weggekauft; Fanini zieht nun den Spurt für Zabel an. Zu allem Überfluss verletzte sich Cipollini noch und tritt bei der Tour nicht an. Aber seinen neuen Meister findet Zabel nun in Wüst. Und das ist dann ja doch erfreulich; es zeigt, dass die Tour gerade nicht vorauszuplanen ist, sondern immer Überraschungen bereit hält. Genau deshalb gucken viele Menschen lieber Tour de France als aus dem Fenster oder in den Fernseher. Zumal diesmal sogar die Chef-Frage gestellt wird. Alberto Elli war eher aus Zufall in jener Ausreißergruppe, die circa sieben Minuten herausfuhr und ihn damit vor allen Favoriten zum Spitzenreiter machte. Über die Berge kommt er bekanntlich gut. Arbeitet Team Telekom nun für das gelbe Trikot oder für Jan Ullrich, der sechs Minuten im Hintertreffen liegt? Hieran entscheidet sich, ob die »Große Schleife« markt- oder planwirtschaftlichen Charakter aufweist. Im Falle der Planwirtschaft wird Ullrich auf Kosten Ellis ganz nach vorn gebracht - wenn Team Telekom freiheitlichen Grundsätzen Genüge tut, darf Elli sich noch einige Zeit im »Maillot jaune« zeigen. Die Bergfahrten in dieser Woche klären diese Gretchenfrage. Letzten Aufschluss wird das Einzelzeitfahren am 21. Juli in Freiburg zeigen. Ja, da ist sie wieder teutonisch, die gallische Tour, und macht einen Abstecher in Deutschlands subtropisches Biotop. Allerletzten Aufschluss über den Tour-Sieger erhalten wir jedoch erst viele Wochen später. Im September werden nämlich eingefrorene Urinproben der Fahrer geöffnet und nach einem neuartigen Analyseverfahren auf Blutdoping untersucht. Das neue Verfahren kann körpereigene von körperfremden roten Blutkörperchen unterscheiden. Erst dann ist die Tour de France 2000 wirklich beendet.

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