Jubel und Entsetzen

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Fußball kann eine Kunstform sein. Im diesjährigen Bundesliga-Finale verdichteten sich Tragik, Triumph und das Unerwartete zu solch einem hochkomplexen Gebilde, wie man es gewöhnlich nur großen Dramen oder Epen zuschreibt. Aus dem banalen entwickelte sich ein fesselnder Kampf um höchste Güter, der - seien wir ehrlich - letztlich verdiente Sieger und tragische Verlierer kennt. Vor Beginn des letzten Spieltages schien alles klar. Bayern brauchte einen Punkt gegen den HSV. Widerstand war allenfalls von Sergej Barbarez zu erwarten, der sich im Fernduell mit Schalkes Ebbe Sand um die Torjägerkrone stritt. Schalke hingegen musste gegen Unterhaching ran, das Unterhaching, das im letzten Jahr Leverkusen den Titel verdarb. Jetzt durften sie wieder Zünglein an der Waage spielen. Bei Strafe ihres Abstiegs mussten sie es sogar; nur mit einem Sieg konnten sie noch an Cottbus vorbeiziehen. Haching war also hinreichend motiviert. Deshalb, und weil die Bayern den Titel aus eigener Kraft gewinnen konnten, enthielt sich Bayern-Manager und Wurstfabrikant Uli Hoeneß diesmal aller Wurst- und Weißbierofferten. Es kam, wie es kommen musste. Schalke, durchs Bochum-Spiel schon stark verunsichert, geriet in Rückstand. Erst das 0:1 durch André Breitenreiter, dann das 0:2. Cottbus, mit 0:0 im Olympiastadion gegen 1860 München herumdümpelnd, war zu diesem Zeitpunkt abgestiegen. Der Supergau für bekennende Antibayern östlich der Elbe.

Die Bayern selbst - kein Tor in Hamburg geschossen, aber auch keins kassiert, waren sicher Meister. Und Schalke - durch die Führung der Dortmunder Borussia - vom gelb-schwarzen Erzfeind gar auf Rang drei verwiesen. Doch dann drehten die Knappen auf. Zwei Tore vor der Pause - und sie hatten ausgeglichen und waren im Spiel um den Titel zurück. Cottbus hatte inzwischen das 1:0 erzielt; Aufatmen war angesagt, aber noch lange keine Beruhigung. In Hamburg entwickelte sich das Spiel wie erwartet. Vielfach prüfte Torjäger Barbarez - der einst unter Frank Pagelsdorf mit Union Berlin sportlich den Aufstieg in die zweite Bundesliga schaffte, bevor dann Lizenzquerelen alles Erreichte zunichte machten - den Bayern-Schlussmann. Wie gewohnt hatte Kahn jedoch mindestens eine Faust oder einen Fuß zwischen Ball und Torlinie. In der zweiten Halbzeit der Rückschlag für Schalke: 3:2 für Unterhaching. Bayern hatte nichts mehr zu befürchten. Bis Schalke doch noch aufstand. 3:3 durch den rabiaten Sachsen Jörg Böhme, der eine Minute später das 4:3-Führungstor schießt, 5:3 durch Ebbe Sand, der sich so die Torjägerkrone sichert. Als hätte Sergej Barbarez davon erfahren, macht auch er sein Tor gegen Oliver Kahn und zieht mit Sand gleich. Auf Schalke rauschender Jubel, als man davon erfährt. Das Spiel ist aus, die Spieler liegen sich in den Armen. Nur in Hamburg ist noch nicht abgepfiffen. Dann doch Schlusspfiff. Sagt ein Reporter von Premiere. Manager Assauer jubiliert, die Spieler stürzen in einer Freudenpyramide übereinander, die Fans zerfließen in Tränen der Freude. Orgasmatische Zustände. Auf der Anzeigetafel sind Bilder aus Hamburg zu sehen. Das Spiel ist noch nicht aus. Der Fernsehmann hat eine Falschmeldung lanciert. Gebannt starren alle hin zur Tafel. Nachspielzeit. Vor zwei Jahren haben die Bayern in der Nachspielzeit die Championsleague-Trophäe verloren. Jetzt liegen sie zurück. Und greifen an. Ein Hamburger Verteidiger grätscht in einen bayerischen Steilpass. Der Ball kommt zum Keeper Markus Schober. Der kickte einst bei Schalke. Jetzt nimmt er den Ball auf. Es ist ein verbotener Rückpass, weil der eigene Verteidiger zurück spielte. Und es ist keiner, weil der Ball nicht kontrolliert zurückgepasst wurde. Schiedsrichter Merk, der den Bayern vorher einen Treffer wegen Abseits, das kein Abseits war, aberkannte, zeigt indirekten Freistoß im Strafraum an. Ausgleichende Gerechtigkeit? Nur Markus Merk weiß das genau. Freistoßspezialist Mehmet Scholl ist nicht auf dem Feld. Stefan Effenberg bestimmt den Abwehrrecken Patrick Anderson als Schützen. Der läuft an, guckt nur auf den Ball, hämmert drauf und durch die lückenhafte Hamburger Mauer springt der Ball ins Netz. Entsetzen auf Schalke. Entsetzen in der ganzen Republik. Jubel nur in den Enklaven der Bayern-Fans. In letzter Sekunde den Titel gerettet. Über sich selbst hinauswachsende Schalker am Boden zerstört. So lange man nicht Schalke-Fan ist - was gibt es Schöneres, als einen Samstagnachmittag in solch einem Wechselbad der Gefühle zu verbringen?

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