Kathartische Bälle

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Fällt einem nichts Positives zum Theater mehr ein, dann streicht man gewöhnlich seinen ephemeren Charakter heraus. Jede Aufführung ist einzigartig, unwiederholbar und überraschend. Aber zuweilen ist das Leben noch grandioser als die Kunst, weil es Unerklärliches geschehen lässt. Dann geraten die alltäglich erprobten kognitiven Kategorien durcheinander. Verstört sucht man Hilfe bei archaischen Bildern: "das Wunder von Haching", "ausgleichende Gerechtigkeit", "David besiegt Goliath".

Als 99 Prozent sicher galt, dass Bayer Leverkusen deutscher Fußballmeister wird. Auch Kollege Magenau verließ sich letzte Woche an dieser Stelle auf den Lauf des Gewöhnlichen. Konnte er zweifellos, musste er vielleicht sogar. Es war doch alles ausgerechnet. 22 Kicker trafen aufeinander. Über elf von ihnen wusste man, dass sie Fußball arbeiten können. Leidenschaftlich zwar, doch über biederes Handwerk nicht hinausgehend. Die anderen elf hatten gezeigt, dass sie Magier sind, dass sie den Ball um ihre Fußsohle tanzen lassen, ihn auf unglaublichen Flugbahnen ins Tor zwirbeln, ihn streicheln, balancieren, mit Hacke, Fallrückziehern, Flugkopfbällen ins Netz befördern können. Sie hatten brasilianische Kunst, Balkanfeuer und deutsche Disziplin in deutsch-brasilianisch-kroatische Köpfe, Herzen und Beine gelegt und in den letzten Wochen sogar Nervenstärke bewiesen. Ein Trainer, der einst als Unsympath der Liga galt, war zum Kreator brillanten Kurzpassspiels gereift. Niemand sprach mehr von Leverkusen als den Plastik-Kickern, dem Pillendreherverein, der konturlosen Retortenmannschaft. Historisch versierte Bayern-Gegner sahen sich gar an die großen Zeiten der Gladbacher Borussia erinnert, als ein Bundesligist jahrelang die Roten aus München spielerisch leicht in die Schranken wies. Jeder gönnte Emerson und Ze Roberto, Kirsten, Ballack, Daum den Titel. Selbst die stolzen Bayern hatten plötzlich den DFB-Pokal als wichtige Trophäe wiederentdeckt - sichtbares Zeichen, dass sie die Meisterschaft verloren glaubten. Und dann schlichen die elf Zauberer auf dem Rasen von Unterhaching umher, als hätten sie die Jahresproduktion Valium des Bayerkonzerns geschluckt. Die Beine bewegten sich so träge, als lastete ein tonnenschwerer Fluch auf ihnen. Magnetisch wurde das Team in den Untergang getrieben, einer der Besten, Michael Ballack, übernahm qua Eigentor die Selbstentleibung. Die Macht, die für all das verantwortlich war, ist schwer zu benennen. Aber sie war zweifellos vorhanden. Niemand getraute sich hinterher von "Versagern" zu sprechen. Die Dimensionen dieser Tragödie waren zu groß dafür, um allein sie in die Verantwortung der beteiligten Akteure zu geben. Nicht einmal spannend war es. Man hat das Ergebnis kommen sehen. Der Sieg der Münchner über Bremen stand vor der Pause fest, Bayers Niederlage zeichnete sich eine halbe Stunde vor Ende ab. Andere Kulturen halten für eine sich so unaufhaltsam vollziehende Maschinerie das Konzept "Schicksal" bereit. Und in München? Schon im letzten Jahr hat ein schauriger Flügel des Tragischen die bayerische Fußballdiva gestreift. Binnen Sekunden, kurz vor dem Abpfiff, verloren sie das Championsleague-Finale gegen Manchester United. Unverdient, unerklärlich auch dies. Keiner, selbst die ärgsten Gegner nicht, konnten Bayern damals ihr Mitleid versagen. Und jetzt sah man die verbiesterten Mienen von Hitzfeld, Hoeneß Co. von einem strahlenden Lächeln erhellt. Zaghaft blickten sie sich an, schauten nach oben, fixierten Anzeigetafel, Radio und Handy als unverhoffte Heilsbringer. Noch nie hatte sich eine Mannschaft so sehr über einen Titel gefreut - er war nicht erarbeitet, sondern geschenkt worden. Jegliche Arroganz, die sich auf dem Vertrauen auf die eigene Leistung stützt, fiel für Augenblicke ab. Aber dann lugte sie doch wieder hervor, die hässliche Fratze der Bestie Bayern. Stefan Effenberg pöbelte angetrunken in die Kamera. Der Zauber des Außergewöhnlichen war verflogen, die Akteure auf das Normalmaß feiernder, aber nicht wirklich feiern könnender Akteure zurechtgestutzt. Und auch die Leverkusener zeigten, dass sie der Größe des Augenblicks nicht gewachsen waren. Wie ein Konfirmand erschien Trainer Daum brav vor Kamera und Mikrofon und versuchte, in dürren Worten Rede und Antwort zu stehen. Diese Art von Selbstverleugnung stutzte ein tragisches Schauspiel auf die Geringfügigkeit eines Medienspektakels. Wär ja sonst auch nicht auszuhalten.

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