Materialfehler löst Hauptkonflikt

Bühne „Tour de France“ Die 97. Tour de France als Schauspiel betrachtet: der alte König wird zur komischen Figur, der Prinz scheitert an der Vorbestimmung, und am Ende ist alles wie zu Beginn

Wer es noch nicht weiß: Die Tour de France, „Mutter aller Radrundfahrten“, ist nach den Grundprinzipien der Aristotelischen Poetik komponiert. Ein Held wird schwersten Prüfungen ausgesetzt. Jammern und Schaudern ruft manch unverdienter Rückschlag hervor. Am Ende setzt sich das allgemein Menschliche durch, Kämpfer umarmen sich, gemeinsam überstandene Prüfungen haben sie einander näher gebracht. Und der Veranstalter macht Kasse. Was in der Tragödie die Exposition ist, heißt in der Tour Zeitfahren. Hier wurden die Protagonisten vorgestellt. Alberto Contador, als Titelverteidiger auf der Königsposition, landete auf dem sechsten Platz. Einer seiner Rivalen, der Königsübervater Lance Armstrong, wurde Vierter – Andeutung eines Generationenkonflikts. Ein anderer Protagonist, Prinz Andy Schleck, kam mit 42 Sekunden Rückstand auf Contador ins Ziel. Rang 122. Als Nebendarsteller setzte sich immerhin Fabian Cancellara, Vasall aus Schlecks Equipe, in Szene und gewann das Zeitfahren.

Mit steigender Handlung geriet das prinzliche Lager weiter in Bedrängnis. Ein in Regen aufgelöster Blütenteppich auf den Kopfsteinpflaster ließ 56 von 193 Darstellern einen Ardennenhügel hinunterrutschen. Der Prinz stürzte zweimal. Sein Vasall, unversehrt geblieben, hielt den Zug an und ermöglichte dem Prinzen den Anschluss. Einen Tag später nahmen Vasall und Prinz keine Rücksicht auf den Sturz des Prinzenbruders und marschierten über das gefürchtete Kopfsteinpflaster Belgiens und Nordfrankreichs nach vorn. Sie distanzierten den König, der durch gebrochene Speichen 20 Sekunden verlor, und nahmen ihm 73 Sekunden ab. Der alte König Lance kassierte über zwei Minuten. So entwich aus dem intendierten Generationendrama Luft, als der alte König dreimal stürzte und sich einen enormen Rückstand einhandelte. Aus Armstrong, dem siebenfachen Toursieger, wurde daraufhin ein Buffo, eine komische Figur, dem nicht einmal der Gewinn einer Etappe gelang, als er, bereits deklassiert, mit einer Ausreißergruppe ins Ziel kam.

Der neue Hauptkonflikt, König gegen Prinz, wurde durch einen Materialfehler entschieden: Andy Schleck, strahlend in Gelb, attackierte am Port de Balès. Er löste sich von seinem Widersacher, ehe ihm die Kette vom Rad sprang. Schleck stoppte, Contador attackierte und setzte sich mit acht Sekunden Vorsprung an die Spitze. Als ironische Volte des Dramas sollte sich herausstellen, dass König Contador mit dem letzten Zeitfahren – dem entscheidenden Epilog – mit genau den 39 Sekunden Vorsprung triumphierte, die er nach Schlecks Materialproblemen herausgefahren hatte. Diese Überlegung übersieht allerdings, dass sich Contadors Überlegenheit bereits im Prolog, in den dort erzielten 42 Sekunden Vorsprung, manifestiert hatte. Tragisch war die 97. Tour de France so gesehen im klassischen Sinne: Da sein Schicksal vorbestimmt war, konnte der Held – Prinz Andy – nur scheitern. Die komplette Vorbestimmung der Tour erklärt andererseits, warum es zwischen Pro- und Epilog kaum emotionale Tiefen gab. Die gemeinsame Fahrt von Schleck und Contador auf den mythischen Tourmalet unterlief die medial geschürte Erwartung vom Kampf Mann gegen Mann. Ein Drama im umgangssprachlichen Sinne fand nicht statt.

Ferner verlieh die Freiwillige Selbstkontrolle dem Schauspiel das Prädikat P 6, weil keinerlei Spuren von Rauschmitteln und anderen pharmazeutischen Produkten festgestellt wurden.

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