Mauer, Macht, Monopoly

Italien Was man über Stadtplanung in Padua wissen sollte

Die Stadt hat eine Mauer. 84 Meter ist sie lang, drei Meter hoch und riegelt seit Mitte vergangenen Jahres den Problemkiez der Via Anelli am nordöstlichen Stadtrand vom angrenzenden Wohnbezirk ab. Als "neue Berliner Mauer" driftete das von der linken Stadtregierung Paduas in Auftrag gegebene Bauwerk durch die Weltpresse. Angesichts der Straßensperren und eines eilends eingerichteten Checkpoints der Polizei erkannte der Korrespondent des Corriere della Sera "ein Beirut, ein Mogadischu, ein Bagdad auf italienischem Boden".

Wer diese Sehenswürdigkeit der bezaubernden Renaissancestadt in Augenschein nehmen will, muss freilich suchen. Dank der rot-weißen Betonklötze, denen die Via Anelli den Status einer verkehrsberuhigten Zone verdankt, weiß man zwar schnell, in der richtigen Gegend unterwegs zu sein. Doch von Polizei fehlt jede Spur. Auch eine Mauer ist nicht zu entdecken. Die Wohnanlage mit dem stolzen Namen Serenissima - einst als Studentenquartier für die nahe gelegene Universität gebaut - ist lediglich mit einem etwa einen Meter hohen, martialisch wirkenden Metallgatter von der Straße separiert. Diese Art Zaun umschließt auch die benachbarten Häuserzeilen. An einer Straßenecke türmen sich zwei Zaunfelder zur stolzen Höhe von drei Metern.

Zwei Schritte weiter ist wieder Schluss mit der abweisenden Herrlichkeit, und der Blick kann über das Gelände schweifen: Sechs Wohnblöcke zu je sechs Etagen lassen sich erkennen - drei von ihnen sind leer, die Fenster tote Augen. Zum Hohn grüßt von einem Fensterbrett ein einsamer Kerzenständer, der beim nächsten Windstoß hinunter zu fallen droht. Die Fassaden der bewohnten Häuser hingegen ergeben ein buntes Patchwork - Wäscheständer fest an der Hauswand verankert und ein Meer von Satellitenschüsseln, das darauf hinweist, die Bewohner bevorzugen Alternativen zum terrestrisch empfangbaren Sedierungsprogramm von RAI und Mediaset. Fazit: Im mäßig gepflegten Einerlei der umliegenden Wohnanlagen fällt die Serenissima bestenfalls wegen ihrer unbekümmerten und verwahrlosten Vitalität auf.

Manchmal stürmen ein paar Dutzend Leute den Checkpoint

Von der Mauer noch immer keine Spur. Nur ein drei Meter hohes Betonungetüm gibt es, das den Baumarkt eines Gewerbeparks vom Wohngebiet abschirmt. Will man schon enttäuscht in die Innenstadt abdrehen, gerät das Monstrum jäh in den Blick: 70 verrostete Metallplatten, die beschriebenen drei Meter hoch, zerschneiden die Vorgärten. An der letzten Platte setzt wieder gewöhnlicher Maschendraht an - die ursprüngliche Begrenzung. Die berühmte Mauer erweist sich als Mäuerchen. Damit hätte Walter Ulbricht kaum das Brandenburger Tor verriegeln können.

"Was in den Zeitungen steht, ist alles gelogen. Glauben Sie kein einziges Wort", empfiehlt mir ein ungefähr 40-jähriger Mann. Er stellt sich als Ali vor, langjähriger Hausmeister und Bewohner von Serenissima. "Die Mauer soll Drogenhandel verhindern", erklärt er. Wohnen denn Drogenhändler auf dem Gelände? "Unbedingt", gibt er unumwunden zu und weist mit fahriger Handbewegung über den Platz, auf dem einige Männer in lockeren Gruppen stehen und missmutig in die Gegend äugen. "Heute sind es weniger als sonst. Es gab eine Razzia, und die Polizei hat bestimmt 60 oder 70 Mann mitgenommen. Die meisten sind allerdings keine Dealer, sondern illegale Einwanderer, die nun garantiert abgeschoben werden."

In der Tat scheint die Serenissima eine Art magnetischer Nordpol für die Kompassnadel der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa wollen. "Bei einigen, die auf Lampedusa gelandet sind, haben sie Zettel mit der Adresse Via Anelli, Padua, gefunden", erzählt Ali noch, der als Tunesier vor 25 Jahren den Sprung in Gelobte Land Europa wagte. Viele Einwanderer arbeiteten als Hausmeister, Kraftfahrer oder in irgendeiner Putzkolonne. "Die zahlen jeden Monat 600 bis 800 Euro Miete für die höchstens 45 Quadratmeter großen Appartements, die Leuten aus Padua gehören." Nur wer auf das schnelle Geld aus sei und dicke Geldpakete in der Hosentasche liebe, betätige sich hier im Rauschgifthandel.

"Die Dealer haben sich Leitern und Podeste gebaut und vertreiben ihre Ware in luftiger Höhe über der Mauer. Die Polizei, die sonst Wache hält und nur jetzt wegen der Razzia weg ist, sieht dann einfach zu. Manchmal stürmen auch ein paar Dutzend Leute den Checkpoint, gelangen ins Freie und verhökern draußen ihre Ware", meint Ali. "Mauern sind für die keine Mauern."

Nach offiziellen Angaben hat der Sperr- und Schutzwall 80.000 Euro gekostet, der gut unterrichtete Ali nennt eine Summe von 250.000. "Die Stadt hätte das Geld besser in den Unterhalt der Häuser gesteckt. Seit Jahren gibt es hier keine Reparaturen mehr."

Schließlich meint er, ich solle mir doch selbst einen Eindruck verschaffen. Also stolpere ich durch ein Treppenhaus, das seit vielen Jahren offenkundig jede Berührung mit Farbe vermieden hat. Was allerdings nicht weiter ins Gewicht fällt, denn ein Deckenlicht, das die Trostlosigkeit erhellen könnte, gibt es auch nicht. Manche Wohnungstüren sind aufgebrochen. Ramponierte Möbel und zurückgelassene Kleiderbündel quellen hervor, Müll und geborstenes Fensterglas liegen herum.

"Die Kommune hat die Wohnungen aufgekauft, kümmert sich aber nicht darum", klagt Michele Donati. Tag für Tag macht der Ingenieur seine Runde durch die herunter gekommenen Blocks und notiert, welche Wohnungstür noch beschädigt ist, wo Wasserflecken, Rattenspuren und Kakerlakennester auftauchen und informiert Kommune und Betreibergesellschaft über die Missstände.

Aber nichts passiert. Donati geht mit mir nach draußen. "Sehen Sie sich die offenen Fenster der geräumten Blocks an: Wind, Regen, Schmutz, alles kann ungehindert eindringen. Die Bausubstanz verfällt. Und die Kommune, die das alles räumen ließ, schaut zu."

Michele Donati wehrt sich gegen jede Stigmatisierung

Donati ist einer der letzten Italiener auf dem Parcours. "Noch in den frühen neunziger Jahren war das eine begehrte Gegend, eine gut durchmischte Wohnstruktur, der Parkplatz in der Tiefgarage, das war Gold wert". Auch als Migranten hierher zogen, habe damit nicht etwa der Abstieg begonnen. "Ich bin doch selbst ein Migrant", scherzt der gebürtige Venezianer und benutzt automatisch den Ausdruck extracomunitario - "Nicht-EU-Ausländer" -, den alle Italiener im Bemühen um political correctness wählen.

Der Mann vom Lido und Canal Grande hatte in Padua Arbeit gefunden, war bald das ewige Pendeln leid und zog hierher. 1986 kaufte er mit Hilfe eines Bankkredits eines der Mini-Appartements. Kaufen war günstiger als mieten, denn die Erstbesitzer hatten sich daran gewöhnt, die Wohnungen an zwei bis drei Studenten zu vergeben und pro Kopf umgerechnet 200 bis 300 Euro zu kassieren.

So richtig explodierten die Mieten indes erst Mitte der neunziger Jahre, als immer mehr Migranten ins Viertel kamen. An bis zu zwölf Personen in einem Appartement erinnern sich Ali und Donati. Und mancher Wohnungsinhaber verlangte weiterhin pro Kopf 200 bis 300 Euro. Trotzdem sei die Gegend kein Ghetto, wehrt sich Michele Donati gegen jede Stigmatisierung. Die meisten Bewohner gingen einer ernsthaften Beschäftigung nach.

Und die Drogendealer?

Donati wählt seine Worte mit Bedacht. "Uns tun sie nichts. Man sollte sie nicht zu aufmerksam ansehen, wenn sie gerade ihre Geschäfte abwickeln. Und ihre Frauen sollte man erst recht nicht anschauen, dann werden sie wild. Ansonsten kannst du mit ihnen reden." Er lässt ein trockenes Lachen hören. "Es ist sogar angebracht, sich ab und zu mit ihrem Chef zu unterhalten. Der hat offenbar florierende Kontakte zur Kommune und weiß oft im voraus, wann eine Razzia stattfindet oder ein Wohnblock geräumt werden soll. Wenn wir Eigentümer wissen wollen, was los ist, gehen wir zu ihm."

Für Donati ist nicht die Mauer das Problem, sondern die Kommunalpolitik, die dazu führte. Ein Stadtentwicklungsprojekt der Agenda 21, überschrieben mit Democrazia virtuosa, kam 1999 zu dem Schluss, dass sich das Wohngebiet am Rande des alten Industriereviers besser für Bürobauten eigne. Donati ist überzeugt, dass der damalige und heute wieder residierende Bürgermeister Flavio Zanonato bereits in dieser Zeit den Plan fasste, Baufreiheit für Investoren zu schaffen. "Die Verwahrlosung des Areals spielt ihm in die Hände." Also kaufte die Kommune Wohnungen der Serenissima für 30.000 Euro auf, deren Marktwert vor dem Verfall bei 120.000 bis 150.000 Euro lag. Die Alteigentümer bemühten sich zwar, einen unabhängigen Investor zu finden, der marktübliche Preise zahlte. Doch die Kommune bestand auf ihrem Vorkaufsrecht. Wie es heißt, will die Stadt Padua spätestens im Frühjahr alle Bewohner umgesiedelt haben.

Dann gäbe es keine Einnahmen mehr. Und die Gebühren für das Condominio würden sein Erspartes in kürzester Zeit auffressen, prophezeit Donati. Folglich werde auch er verkaufen müssen.

Bürgermeister Flavio Zanonato, seit Jahrzehnten eine wichtige politische Figur in der Stadt, beteuert hingegen, es werde neuer Wohnraum in der Via Anelli geschaffen. "Ja, wir kaufen sukzessive die Wohnungen für einen Festpreis von 30.000 Euro auf. Etwas mehr als 100 der insgesamt 300 Einheiten befinden sich bereits im Besitz der Kommune. Wenn das Condominio dann komplett geräumt ist, werden wir für eine bessere Wohnsituation sorgen. Wir reduzieren die Gebäudefläche um 15 Prozent - eine weniger dichte Besiedlung wird die Folge sein und ausschließen, dass es wieder ein Wohnghetto gibt."

In der Via Anelli traut niemand diesen Versprechen. Warum hat die Stadt nicht schon früher eingegriffen, stattdessen tatenlos zugesehen, wie das Gebiet verkam? In einem Punkt freilich sind sich die Bewohner weitgehend einig: Niemand möchte unter den jetzigen Bedingungen weiter in der Serenissima leben. Ali freut sich schon auf die versprochene neue Wohnung. Dass die meisten Bewohner der Via Anelli dann über das gesamte Stadtgebiet verstreut leben werden, stört ihn nicht.

Michele Donati blickt dem erzwungenen Umzug skeptischer entgegen. "Man kann sich die künftige Wohnung nicht aussuchen und kaum auf den Umzug vorbereiten", klagt er. Man müsse am Tag der Räumung in der Wohnung sein. Nur dann habe man ein Recht auf die Austauschwohnung. Einer Zahnärztin, der wohl am besten situierte Bewohnerin der Via Anelli, sei es passiert, dass sie durch die Räumung obdachlos geworden sei und einige Nächte in ihrer Praxis zubringen musste. "Das ist umgekehrte Diskriminierung", stellt Donati lakonisch fest.

Mobilisierende Effekt übt die Mauer auf die außerparlamentarische Linke aus. Autonome Gruppen haben "Stop the Wall!" auf die Metallplatten geklebt und liefern sich gelegentlich Schlachten mit der Polizei. Eine gewollte Eskalation. Einige der politisch engagierteren Bewohner nutzen die Aufmerksamkeit, die ihnen die Mauer noch immer verschafft. Sie fordern bessere Lebensbedingungen für Migranten und eine Revision der Antidrogengesetzgebung, die es ermöglichen soll, nicht nur die kleinen Dealer, sondern auch die finanzstarken Hintermänner ins Gefängnis zu bringen.


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