Die Kleinstadt Canete im Süden von Santiago de Chile hat nicht viel zu bieten. Die Häuser sind klein. Staub wirbelt über die Straßen. Auf der großen Einkaufsstraße schiebt sich ein müder Passantenstrom vorwärts. Der Hauptplatz immerhin ist eine grüne Oase und wird von einer eindrucksvollen Schnitzerei der Mapuche geschmückt. Am Eingang des Ortes hält ein Museum Kultur, Geschichte und Mythen dieses indigenen Volkes in Erinnerung. Als Ende der achtziger Jahre die Pinochet-Diktatur zusehends verfiel, erwachte aufs Neue der Wille einiger Mapuche, sich als Nation zu konstituieren und die engen Grenzen, die ihnen durch Reservate gesetzt waren, wieder zu sprengen.
Lächerliche 6 Prozent des alten Territoriums
Wie lebendig dieser Wille noch heute ist, beweisen unzählige Graffiti am Straßenrand. Freiheit für die politischen Gefangenen wird an der Busstation verlangt. Autonomie für Araukanien ruft es von einer Hauswand – Weg mit den Forstkonzernen steht am Haus nebenan. Den Mapuche geht es darum, verlorenes Territorium wieder zu gewinnen und den Staat zu bewegen, einen an Rechtsnormen gebundenen Umgang mit ihren politischen Aktivisten zu pflegen.
„Wir verlangen, dass der chilenische Staat unser Land wieder zurückgibt“, sagt Natividad Llanquileo. Die junge Frau ist Jura-Studentin sowie Mapuche-Aktivistin und als solche vom quirligen Santiago wieder ins verwitterte Canete heimgekehrt. Die angehende Juristin beruft sich auf einen Vertrag, den 1641 der damalige spanische König mit den Mapuche besiegelte und damit den Ureinwohnern alles Land südlich des Bio-Bio-Flusses zusicherte. Mehr als 200 Jahre hatte das Abkommen Bestand. Dann aber, Ende des 19. Jahrhunderts, drang die chilenische Armee über die Grenze des Bio Bio und warf die Mapuche nieder. Zeitgleich stießen jenseits der Kordilleren die argentinischen Militärs gen Süden vor.
Befriedung Araukaniens nannte sich die Operation auf chilenischer Seite, Wüstenkampagne auf argentinischer. Als „Völkermord an den Mapuche und Tehuelche“ bezeichnet Natividad Llanquileo diesen Krieg. Die überlebenden Indigenas wurden in Reservate gebracht. Ihnen standen fortan insgesamt 525.000 Hektar Boden zu – lächerliche sechs Prozent ihres ursprünglichen Territoriums.
Im Jahr 2011 das gesamte Land wieder in Besitz nehmen zu wollen, ist absurde Utopie. Schließlich siedeln die Nachfahren deutscher, eidgenössischer, italienischer, französischer und britischer Siedler mittlerweile in der vierten und fünften Generation auf diesem Land – und sind selbst stolz auf die Lebensleistung ihrer Familien. Manche Mapuche fordern dennoch alles Land zurück. „Sollen doch die Nachfahren der Europäer, die vor 100 Jahren von den Auswanderungsagenten mit der Aussicht gelockt wurden, dass hier herrenlose Gebiete wohlfeil zur Verfügung stehen, den chilenischen Staat wegen unzulässiger Werbung verklagen, wenn Mapuche das Land wieder zurückholen“, empfiehlt trocken der Publizist Pedro Cayuqueo. Natividad Llanquileo vertritt in dieser Frage eine moderatere Auffassung: „Das ganze Land bleibt ein Traum – das wissen wir, aber für den kämpfen wir trotzdem.“
Immerhin 100.000 Hektar sind den Mapuche in den vergangenen Jahren von der Regierung zurückgegeben worden. Das lief nicht immer glücklich ab. „Viel Land ging an Einzelpersonen, obwohl bei den Mapuche der Boden Gemeineigentum ist. Oft liegen dieser Ländereien auch nicht in den angestammten Gebieten“, kritisiert José Aylwin von der Bürgerrechtsorganisation Observatorio Ciudano in Temuco. Außerdem sei viel weniger zurückgegeben worden als möglich war. „Der Staat hat das Land von Privatpersonen aufgekauft. Und die haben dabei einen politischen Preis kassiert, der stark über dem realen Wert des Bodens lag“, meint der auf Menschenrechtsfragen spezialisierte Anwalt.
Dass die Mapuche – jahrhundertelang gefürchtete Krieger, die durch Alkohol, Christianisierung und Ausbeutung gefügig gemacht wurden – überhaupt wieder um ihr Land streiten, hat mit einer neuerlichen Verletzung ihrer angestammten Rechte zu tun. Unter Augusto Pinochet wurden viele Gewässer und große Teile des Waldbestandes privatisiert. Das Militärregime füllte sich die Taschen und behauptete, wirtschaftlich erfolgreich zu sein, zugleich konnte eine neue Schicht von superreichen Chilenen entstehen, die noch heute die Ökonomie des Landes beherrscht. Die Folgen dieser Privatisierung ganzer Landschaften sind immens. Wo einst mächtige Araukarien standen, breitet sich jetzt nackter, geschundener Erdboden. Chiles Nationalbaum mit den unverkennbar langen Nadeln, der einst überall im Süden wuchs, musste in den vergangenen Jahrzehnten Eukalyptus- und Kiefernplantagen weichen, wie sie die Zellulose-Industrie bevorzugt. Wenn sich Jahr für Jahr gewaltige Fällmaschinen durch die Monokulturen fressen, bleibt nicht mehr zurück als eine Schicht von trockenen Ästen.
„Die ganze Region südlich des Bio Bio-Flusses fiel in die Hände der Konzerne. Eukalyptus und Kiefern haben unsere einstigen Wälder verdrängt“, meint José Aylwin in seinem Büro in Temuco und lässt die Hand einen weiten Bogen beschreiben, der symbolisch vom Pazifik bis hin zu den Anden reichen soll. Wer in der Nähe von Temuco von der Ruta 5 abfährt, dem chilenischen Part der panamerikanischen Autobahn, findet Aylwins Urteil bestätigt. Egal ob man sich den Reservaten der Küsten-Mapuche nähert oder sich zu den Kordilleren hinbewegt, in deren Vorfeld zudem einige Täler von Stauseen überflutet sind – stets findet man sich mitten in einem industriellen Wald wieder. Mal sind es Kiefern, dann wieder Eukalyptusbäume, in gleichem Alter und gleicher Größe aufgereiht, bis sie das Schicksal ereilt, von den stählernen Schneiden gefällt zu werden.
Nach Statistiken der nationalen Forstbehörde CONAF machten 2008 Eukalyptus- und Kiefernpflanzungen fast die Hälfte des gesamten Waldes der VII., VIII. und IX. Region aus. Etwa 1,7 Millionen Hektar werden mit diesen Gehölzen bewirtschaftet, die gesamte Waldfläche der Region beträgt 4,3 Millionen Hektar. Bereits 1975 warnte eine Studie der Welternährungsorganisation FAO vor den Risiken des exotischen Eukalyptus-Baumes: „Er verdrängt andere Gehölze, verbraucht entschieden mehr Wasser und trägt so zur Erosion des Bodens bei.“
Auf genau diese Folgen weisen die Mapuche hin. „Das Biosystem wird schwer gestört – eine ganze Kultur der Heilkräuter, die aus der Medizin der Mapuche nicht wegzudenken ist, wird von den Monokulturen verdrängt“, klagt Juan Guzman. Der frühere Richter aus Santiago, der in den neunziger Jahren einen Prozess gegen Ex-Diktator Pinochet wegen Verbrechen gegen die Menschheit anstrengte, hat sich seit Jahren den verdrängten Rechten der Mapuche verschrieben. „Mapu bedeutet Land oder Erde, Che bedeutet Menschen. Mapuche bezeichnen sich deshalb selbst als Menschen der Erde. Für sie ist Land daher weit mehr als eine begrenzte, auszubeutende Nutzfläche – Land gibt ihnen Identität, Kultur und Sprache. Das Biosystem weist ihnen ihren Platz im Universum zu. Wenn Mapuche um Land kämpfen, dann geht es ihnen auch darum, ihre kollektive Identität wiederherzustellen.“
Der ehemalige Richter will allerdings nicht gutheißen oder rechtfertigen, dass einige Mapuche bei ihren Protesten gegen das Unrecht zu Anarchie und Rechtsbruch neigen. „Unglücklicherweise gibt es Fälle, dass Indigenas Land von Wincas („Fremde“ in der Sprache der Mapuche – die Red. ) besetzt haben. Dass sie Forstbetriebe und Weideflächen entern, Maschinen zerstören, auch Felder und Häuser niederbrennen“, bedauert er.
Dass der Staat darauf reagieren müsse, sei unstrittig, doch wie er das tue, erscheine ihm skandalös. Es werde tendenziös ermittelt und manipuliert. „Nicht jede Sachbeschädigung, die den Mapuche zur Last gelegt wird, geht auf sie zurück. In manchen Fällen“ – so Guzman – „haben die Besitzer die Brände selbst gelegt. Oft werden auch Unbeteiligte angeklagt, Zeugen unter Druck gesetzt und zu Falschaussagen genötigt, um gezielt bestimmte Aktivisten ins Gefängnis zu bringen. Und das für eine lange Zeit.“
Guzman selbst verteidigt im Augenblick Hector Llaitul, den Gründer der radikalen Mapuche-Organisation Coordinadora Arauco Malleco (CAM). Llaitul ist mit 16 anderen Mapuche in einem Mammutprozess in Canete angeklagt. Ihm drohen 103 Jahre Gefängnis. Bewacht von schwer bewaffnetem Wachpersonal sitzen Llaitul und Genossen in einem Verhandlungssaal, der mit Panzerglas gegen sie abgeschirmt ist. Man kennt diese Käfige für die Angeklagten aus Mafia- und Terroristen-Prozessen. Nur sind hier vor dem Bezirksgericht von Canete Männer angeklagt, denen pauschal Besetzungen und Brandstiftungen in den Jahren 2006 bis 2008 vorgeworfen werden. Dass sie bereits seit 18 Monaten in Untersuchungshaft sitzen, hat auch etwas mit dem „Antiterror-Gesetz“ zu tun, das dafür die juristische Handhabe liefert und noch aus den Zeiten der Pinochet-Diktatur stammt, als damit militante linke Regimegegner getroffen werden sollten. Unter den nachfolgenden Regierungen, die sich – ob von den Christdemokraten oder Sozialisten gestellt – als demokratisch verstanden, wurde das Gesetz zusätzlich verschärft. Galt es unter dem alten Regime als terroristischer Akt, wenn man nur damit drohte, Gewalt anzuwenden, um so eine bestimmte Bevölkerungsgruppe oder einen politischen Gegner zu bedrohen und zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen, so wurde inzwischen auch Brandstiftung als Tatbestand in die Antiterror-Gesetzgebung aufgenommen. Juan Guzman erläutert die Konsequenzen: „Wenn ein Mann mit einem Namen wie zum Beispiel Tom Mustroph unter Verdacht gerät, in Santiago das Haus seines Nachbarn angezündet zu haben, dann wird er wegen Brandstiftung angeklagt und – falls man ihn verurteilt – eine minderschwere Strafe erhalten. Wenn er aber den Namen Hector Llaitul Carillanca trägt und ihm das gleiche Delikt vorgeworfen wird, dann fällt er unter das Antiterror-Gesetz und muss darauf gefasst sein, dass ihm viele Jahrzehnte in einer kleinen Zelle drohen.“
Guzman ist optimistisch, dass Llaitul und die 16 anderen letzten Endes doch rehabilitiert werden. Schließlich konnte er bereits einen anderen Mapuche-Prozess gewinnen. In diesem Verfahren hatten Polizisten und zivile Zeugen ausgesagt, aus zwei Kilometer Entfernung über einen See hinweg eine Gruppe von exakt 40 vermummten Männern, die von einem Mapuche-Ältesten in blauem Anzug geführt wurden, dabei beobachtet zu haben, wie sie Häuser in Brand setzten. „Ich habe die Zeugen im Kreuzverhör einzeln danach befragt, wie sie Entfernungen schätzen, wie sie die Anzahl von Menschen in einer Gruppe bestimmen und zweifelsfrei identifizieren. Die Erklärungen dazu wie auch die Aussagen überhaupt wichen so stark voneinander ab, dass der Richter gar nicht anders konnte, als das Verfahren einzustellen.“
Wohin die Reise der Mapuche gehen soll, ist selbst den Aktivisten nicht immer ganz klar. „Kämpfen wir zuerst gegen den chilenischen Staat oder gegen das Kapital?“ fragt Claudio Alvarado von Meli Witran Mapu in einem Aufsatz. „Wenn wir eine eigene Nation sein wollen, müssen wir die Massen hinter uns bringen.“
Die Aktivistin Natividad Llanquileo, die in Canete den Prozess gegen Hector Llaitul beobachtet und mit juristischen Mitteln um dessen Freilassung kämpft, muss zugeben, es werde noch dauern, bis das ganze Volk der chilenischen Indigenas mobilisiert sei. „Bildung ist nicht verbreitet. Viele können nur unzureichend lesen und schreiben. Alkohol ist ein großes Problem. Und leider lassen sich immer wieder Mapuche als Kronzeugen in Prozessen gegen andere Mapuche missbrauchen.“
Tom Mustroph ist freier Autor und derzeit auf Reportage-Reise in Südamerika
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