Wenn die Kufen Unebenheiten abrasieren ...

ALLTAG FES ist ein geheimnisumwittertes Relikt aus DDR-Zeiten. Seit den siebziger Jahren sorgte die Forschungsabteilung dafür, dass die "Diplomaten im Trainingsanzug" großartige Siege erringen konnten. Auch heute noch baut das Institut leistungsstarke Geräte für die deutsche Sportelite

Schnee liegt auf den Straßen; die Bürgersteige sind stellenweise zu Eisbahnen mutiert. Kein Wunder also, dass die Mitarbeiter des Instituts für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) in Berlin-Schöneweide ganz im Banne des Wintersports stehen. Die Olympischen Sommerspiele in Sydney sind abgehakt. Ein Rennrad des erfolgreichen Bahnvierers ist in die historische Sammlung integriert, in der schon die damals sensationellen Karbonräder von Seoul 1988, ein Zeitfahrrad von Jan Ullrich und eines vom Sprinterkönig Jens Fiedler stehen. Das ist alles ruhmreiche Vergangenheit. Jetzt läuft der Countdown für die Winterspiele 2002. Die neuen Bobs und Rennschlitten müssen als Prototyp gebaut und getestet werden. Deshalb trifft man kaum jemanden auf den Gängen der hochkarätigen Forschungsabteilung. Ein Team ist mit der neuen Generation von Bobs und Rennschlitten zum Probelauf in Altenberg unterwegs.

Nur ein zukünftiger Zweierbob steht in der Werkstatt. Wie ein eleganter, ausgeweideter Haifisch sieht die mattgraue Hülle aus. Die windschnittigen Abweiser, die das Gefährt von der Eiswand fernhalten sollen, gleichen kleinen Flossen. Die gesamte Oberfläche ist noch derartig rau und roh, dass sie wie die Epidermis eines lebendigen Organismus wirkt. Noch keine Spur von glänzendem Lack, deutschen Nationalfarben oder Werbesignets. Unwillkürlich hält man das langgestreckte Projektil für eine abgezogene und gespannte Haihaut. Die Techniker des FES haben die Außenhaut des Bobs vor kurzem erst aus dem Ofen gezogen. "Gebacken", sagt Institutsdirektor Harald Schaale dazu, weil der Kunststoff in eine Form gepresst und nur auf schlappe 80 Grad Celsius erhitzt wird. Um 0,2 Sekunden - bezogen auf die Laufzeit von ca. einer Minute - soll dieser Bob schneller sein als das Olympiagefährt von Nagano. Das steht als Zielvorgabe im Vertrag zwischen FES und dem deutschen Bob- und Rennschlittenverband. Einen Teil davon holt Schaales Team schon mit Form und Material der "Karosserie" heraus. Ein Drittel der Leistungsverluste wird durch die Reibung mit der Luft verursacht. Deshalb ist die Hülle völlig neu designt und im Windkanal getestet. Die entscheidenden Unterschiede wird allerdings nur der Fachmann feststellen können, und das wohl auch nur mit Zentimetermaß. Daher dürfen wir zumindest den hinteren Teil des geheimnisvollen Objekts fotografieren. Dennoch werfen die FES-Mitarbeiter besorgte Blicke herüber, wenn wir den wie aus einem Guss wirkenden Körper hierhin und dorthin bugsieren. Die filigrane Hülle soll schließlich nicht erschüttert werden und erst recht nicht vom Wagen fallen.

An Fahrwerk und Kufen lässt Schaale die Kamera nicht heran. Das Geheimnis soll noch nicht gelüftet werden. Angucken dürfen wir den Unterbau zwar; aber das ist auch nichts anderes, als glotzte ein Schwein ins Uhrwerk: Kufen, Gestänge, Stoßdämpfer, hm, ja. Ein weiteres Drittel an Leistung geht durch die Reibung zwischen Kufen und Eis verloren. Das letzte Drittel resultiert aus der Eiszerstörung. "Das sind die weißen Stellen im Eis. Sie entstehen, wenn die Kufen Unebenheiten der Eisoberfläche abrasieren", erklärt Schaale. Über die zerstörten Stellen können die Kufen nicht mehr "ideal" gleiten. Stoßgedämpfte Kufen sorgen dafür, dass der Bob auch über Huckel im Eis gleitet und so nicht an Fahrt verliert.

FES ist ein geheimnisumwittertes Relikt aus DDR-Zeiten. Seit den siebziger Jahren sorgte die Forschungsabteilung dafür, dass die damals so genannten "Diplomaten im Trainingsanzug" über erstklassiges Material verfügten, damit großartige Siege erringen konnten und vor allem Flagge und Hymne der DDR auch im letzten Winkel der Welt bekannt machten.

Begonnen hatte es 1961: Die Spitzensegler und -ruderer brauchten Boote, die den erhöhten Beanspruchungen im Leistungssport standhielten. Aus ersten Bootsreparaturen und Wartungsarbeiten entwickelte sich der experimentelle Schiffsbau. In den siebziger Jahren kam der Schlittenbau hinzu und später der Radsport. Kufen für die Eisschnellläufer wurden produziert, Kanus und Kajaks, Waffen für Sportschützen und Biathleten. Ein wichtiger Bereich ist die Messtechnik. Früher stoppte man nur die Zeit, die die Testpiloten zurücklegten. Mittlerweile kann man jeden Ruderschlag messen und sogar feststellen, wer sich richtig in die Riemen legt und wer sich von den Kollegen nur spazieren fahren lässt. Aufgrund der Leistungskurven stellen die Trainer inzwischen die Besatzung der Großboote zusammen. Im Radsport kann der Krafteinsatz an der Pedale für jeden Moment der Umdrehung ermittelt werden; zu Trainingszwecken ist die Belastung für einzelne Abschnitte der Pedalumdrehung manipulierbar.

Heute stellt die Firma Mess-, Trainings- und Wettkampfgeräte für zehn Sportarten her. Von 180 Leuten zu DDR-Zeiten sind zwar nur 52 übrig geblieben, aber immerhin hat der Betrieb sich in seinem Profil behauptet. Das FES ist eine reine Forschungs- und Entwicklungsabteilung, die neue Geräte nur dem handverlesenen Kreis der deutschen Sportelite zur Verfügung stellt. Der Produktionsausstoß beträgt maximal 40 Räder oder zwei bis sechs Bobs. Um eine Vermarktung braucht man sich nicht zu kümmern; der Markt für Bahnräder oder Bobs dürfte ohnehin nicht riesig sein.

Sehr ungern denkt Harald Schaale an die erste Hälfte der neunziger Jahre zurück, als der gesamte Betrieb zur Disposition stand. Nein, abgewickelt wurden sie nicht. Aber nach der Wende lag der ominöse KW-Vermerk (wie Verwaltungsmitarbeiter glaubwürdig versichern, kommt der tatsächlich von "kann wegfallen") auf der ganzen Abteilung. "Von Jahr zu Jahr haben sie uns weniger Geld gegeben, so dass das Ende abzusehen war. Mit einer jährlichen Unterfinanzierung von einer Million kommt man nicht zum arbeiten", stellt Schaale klar. Zum Glück kamen Nachfragen aus dem Ausland. Das für den Sport zuständige Ministerium des Inneren lenkte ein. Das über Jahrzehnte gewachsene Knowhow wurde nicht in alle Winde zerstreut.

Da traut man sich kaum zu fragen, ob FES und die Formel 1 etwas gemeinsam haben. Gelächter ist die Antwort. "Vom Budget her mit Sicherheit nicht." Aber auch beim FES gibt es eine Deadline. Nachtarbeit ist in Spitzenzeiten kein Fremdwort und ein erklecklicher Teil des Erfindungsreichtums gilt der kreativen Auslegung des Regelwerks. Was im Motorsport Starthilfen, Kühlungssysteme und Kotflügel sind, sind im Radsport Sitzpositionen und Rahmenprofile oder beim Rudern die Abmaße der Boote. Der Viererkajak, den das FES gerade in Arbeit hat, gleicht einem langgezogenen Samuraischwert, das das Wasser nurmehr durchschneidet, anstatt auf ihm zu gleiten. Am Heck ragen zwei Stummel in die Höhe. Sie sehen wie ein besonderes aerodynamisches Element aus. Sie könnten auch ein gewagter ästhetischer Einfall sein, erinnern sie doch an die Flügelansätze von Superman. Aber sie markieren nur die im Reglement vorgeschriebene Mindestbreite des Bootskörpers. So kann man mit Vorschriften umgehen.

Harald Schaale ist leidenschaftlicher Segler 1977 wurde er im 470er gemeinsam mit Helmar Nauck sogar Vizeeuropameister. Jetzt baut seine Firma selbst 470er. Das Boot der Soling-Klasse vom mehrfachen Olympiasieger und Weltmeister Jochen Schümann hat die Truppe vom FES auch auseinander gebaut und wieder zusammengesetzt. "Guckt mal rein", soll Schümann gesagt haben. "Dann haben wir alles auseinander montiert und festgestellt, dass der Kiel schief war. Wir haben eine Symmetrievermessung durchgeführt und das Boot ausgependelt", erzählt Schaale. Was hier leicht esoterisch klingt, beschreibt die Bestimmung des Schwerpunktes. Ist er mehr in der Mitte, schlägt das Boot wenig aus; die Amplitude wächst, je weiter der Schwerpunkt nach außen wandert. "Je nach Revier braucht man eine unterschiedliche Abstimmung, weil die Wellen jeweils anders hereinbrechen." Manche Veränderungen sind kaum messbar, "aber der Segler merkt es unterm ›Gesäß‹. Wir sagen dazu Mikrozyklus. Manchmal ist das nur eine halbe Bootslänge auf 1.500 Metern. Aber sie kann entscheidend sein, wenn man zuerst zur Wendemarke kommt." Hat man die halbe Bootslänge, dann sagen Segler "es fährt"; hat man sie nicht, dann "klemmt es". Aus eigener Erfahrung weiß Schaale, dass man die Hinweise der Sportler beachten muss. Selbst wenn kein Messgerät sie bestätigt. Sportler kennen die Tücken und Stärken ihrer Geräte genau. Im Fachdeutsch von FES hieße das etwa: "Das Sportler-Gerät-System ist fein aufeinander abgestimmt." Die Eisschnellläuferin Gunda Niemann-Stirnemann soll schon einmal muskuläre Probleme bekommen haben, weil jemand anderes ihre Schlittschuhe schliff ...

Weil viele Mitarbeiter des FES selbst aus dem Leistungssport kommen, wissen sie solche Signale richtig einzuordnen. Es gehört zur Unternehmensphilosophie, dass man nicht nur ein Top-Gerät herstellen soll, sondern es auch auf den einzelnen Sportler anpassen muss. Der Bahnverfolger Robert Bartko absolvierte in der vergangenen Saison mehrere Tests. Achtmal hintereinander fuhr er jeweils einen Kilometer mit Tempo 50. Mal wurde die Sitzposition variiert, mal unterschiedliche Helme oder Trikots genommen. Die Auswertung erbrachte, welches Material und welche Position die beste für Bartko ist. "Das ist auch für den Sportler wichtig. Er weiß jetzt hundertprozentig, dass er unter optimalen Bedingungen an den Start geht und beschäftigt sich nicht mehr damit, ob noch irgendwo etwas herauszuholen ist. Er braucht sich nur auf die eigene Leistung zu konzentrieren und kann die ganz Schlauen ignorieren, die ihm dies oder das aufschwatzen wollen." Schaale ist von der Qualität seiner Arbeit überzeugt. Und die Sportler - egal ob Bartko, Ullrich oder Lehmann - vertrauen den Experimenten seines Instituts. Für sie hängt viel Geld von erstklassigem Gerät ab - ein Profivertrag, Sponsoren, die lukrativen Sechs-Tage-Rennen.

An wie viel Erfolgen das Forschungsinstitut beteiligt ist, wollen wir zum Schluss noch wissen. Aufstöhnen bei Harald Schaale. "Die Frage fällt oft. Viele, kann ich nur sagen. Aber wir führen da keine Statistik. Schließlich stellen wir nur die Leistung Technologie. Die Sportler müssen die Leistung ganz allein erbringen." Immerhin bei 20 Medaillen in Sydney waren Produkte von FES mit im Spiel, verrät er, bevor wir die Daumenschrauben herausholen. Es wirkt wie aus einer anderen Ära, dass da jemand ist, der Erfolge nicht automatisch für sich reklamiert. Keine Fotos mit Prominenten, Urkunden, Pokale. Nur ein Olympiatrikot von Bartko liegt eher unauffällig im Büro des Chefs. Am FES ist die Mode der Selbstdarstellung bislang vorbeigeschwappt. Man will hier partout keine Schlagzeilen produzieren - keine PR-Angestellte, keine Homepage und selbst die Präsentationsmappe besteht aus Fotos in Klarsichthüllen. Aber vielleicht gehört das einfach zum Kultstatus, den die Firma unter Sportinteressierten seit Jahrzehnten genießt.

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