Zukunft heute

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Ein schöner Sommertag. Die Trottoirs mit Kaffeehaustischen besetzt. Statt Foucault liest man jetzt Jens Roselt, Passagenverlag vermutlich, weißes Cover, glänzend, Paperback, rote Schrift. Die eigene Generation übernimmt den Mittelbau, wird mittlerer Leitwolf. Gemütlichkeit macht sich breit, intelligente, charmante, relaxte Gemütlichkeit.

Frauen tragen dicke Bäuche; Männer spielen mit - nicht an - Kindern herum. Das Fundament für eine neue Zukunft ist gelegt. Zukunft scheint wieder möglich, leicht abgefedert; zwischen den Riffen von Ehrgeiz, Individualitätsstreben und Einsamkeitsverhütung ins ruhige Fahrwasser aufgeklärter Familien- und Arbeitsverhältnisse steuernd. Es klappt alles. Diese Generation hier, 25 bis 40-Jährige am Prenzlauer Berg, hat das kleine Glück am Schopfe gepackt; ist reingerutscht in dieses Glück. Sie weiß gar nicht so recht darum, es ist ihr eine selbstverständliche Soße.

Wie Fremdkörper schießen zwei wahre echte Tussis zwischen die Tische. Sie sind noch Abbilder der achtziger Jahre - bulimiegehärtet, strassbesetzte Tops, asketische Züge, mit ihrem Pudel auf der Jagd nach dem Glück. Immer jagend, nie findend. Regelrecht abgründig die beiden. Sie haben (weil unfähig?) ihre Risse nicht gekittet, nicht übertüncht. Frauen mit Vergangenheit.

Wohlgenährt, rund, glatt, niedlich, nicht zu perfekt die anderen. Süßer Speck hat sich über ihre Abgründe gelegt. Speck kaschiert, hält in Form, verhindert das Auseinanderbrechen. Sie werden nicht zerrieben zwischen den Mahlsteinen aus alten Ansprüchen und Zuständen.

Freundlich lächelnd die Kellnerin, keine Leiche im Keller, keine Trauer. Haben sich Speck und Fett auf die Fenster zur Seele gelegt? Nicht als Flor, sondern als Isolationsschicht, als Spiegelfläche, die nur satte Zufriedenheit zurückwerfen kann?

Diese Generation ist erhaben über Markennamen, sie nutzt sie, verwirft sie, spielt mit ihnen. Ernsthaft ist ihr das Leben geworden, die Arbeit, die Freunde. Sie hat vergessen, dass das Leben und seine Möglichkeiten einst Spiele waren; jetzt ist sie darin eingesponnen, freundlich, gemütlich, aufgeklärt, selbstbewusst.

Bessere Menschen als sie kann es als Masse nicht geben. Und doch Ekel, Abscheu, Aufschrei. Her mit dem Dreck, wilde pubertierende Punks, die Rauheit des Mittelalters aufleben lassende Penner, besoffene Existenzen - Existenzen immerhin, feurige Anarchos, zur Not sogar dumpfkaltekstatische Glatzen - nur Leidenschaft her, nicht etwas, sondern viel.

"Ein bisschen Frieden" - das einst von Nicole besungene Maßhalten in globalen Fragen haben behäbige Neubürger zum Leitmotiv ihrer Lebensführung auserkoren.

Stadthunde, gut gefönt, flöhen sich; vielleicht kacken die gar nicht mehr auf den Bürgersteig; gut erzogen, kacken vielleicht überhaupt nicht mehr? Biotechnologische Tamagotchis. Vitaminpräparate. Emotionsmodule.

Heute, im "Sowohl als Auch", Sredzkistraße, Prenzlauer Berg.

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