1914 Kurz vor Kriegsausbruch war vor 100 Jahren noch Zeit für eine Tour de France. Danach wurde das Rennen erst wieder 1919 gestartet, als eine ganze Radsportgeneration fehlte
Am 28. Juni 1914 fällt um drei Uhr morgens ein Schuss im Pariser Vorort Saint-Cloud, das Startsignal für 145 Radfahrer, die in den folgenden drei Wochen zur12. Tour de France unterwegs sein werden. Etwa sieben Stunden nach dem Schuss bei Paris sind in Sarajevo, gut ein Drittel der 5.405 Kilometer umfassenden Tour-Strecke entfernt, ebenfalls zwei Schüsse zu hören. Der bosnische Serbe Gavrilo Princip erschießt Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Frau.
Die 145 Profis, unter ihnen sieben frühere Tour-Sieger – Louis Trousselier (1905), Lucien Petit-Breton (1907/1908), François Faber (1909), Octave Lapize (1910), Gustave Garrigou (1911), Odile Defraye (1912) sowie Titelverteidiger Philippe Thys – dürften von den Geschehnissen in Bosnien wenig m
en wenig mitbekommen haben. Ebenso wenig wird ihnen bewusst gewesen sein, dass die Schüsse von Sarajevo den Anlass zu einem großen Krieg liefern sollten. Ihre Konzentration galt der Tour, ihre Hoffnung dem Ruhm, den ein Sieg in diesem Rennen einbrachte. Auch das Preisgeld war nicht zu verachten. Insgesamt 45.000 Francs wurden verteilt. 5.000 davon entfielen auf den Sieger, von der Kaufkraft her etwa 15.000 Euro, rechnet man in die heutige Währung um. Sehr wenig im Vergleich zu den 450.000 Euro, die dem Gesamtsieger 2014 winken. Was aus historischer Sicht aber sehr viel mehr verblüfft: Den Radsportlern blieb noch genug Zeit, vor der Mobilmachung ihre Tour ins Ziel zu bringen.Wenn es geschlossen fuhr, zählte das Peloton 1914 anfangs zwölf Teams und 97 Einzelfahrer, wobei die Mannschaften unterschiedlich groß waren. Manche hatten nur einen oder zwei Fahrer. Fürs Peugeot-Team gingen elf Mann an den Start, mit Titelverteidiger Thys, Ex-Tour-Sieger Garrigou, dazu die künftigen Tour-Matadore Firmin Lambot und Henri Pélissier, sportlich das stärkste Aufgebot. Von den zunächst gemeldeten 197 Fahrern erschienen allerdings nur 145 zum Start in Saint-Cloud.Jede Hilfe verbotenAuf der ersten Etappe nach Le Havre über 388 Kilometer gaben gleich 25 Fahrer auf, zumeist die am schlechtesten ausgerüsteten. 24 von ihnen waren Einzelstarter. Reparaturen mussten die Fahrer allein vornehmen. Laut Reglement war ihnen jede Hilfe verboten. Eugène Christophe, Mitglied des Peugeot-Teams, hatte bei der Tour ein Jahr zuvor nach einem Gabelbruch in den Pyrenäen zunächst einen 14 Kilometer langen Fußmarsch auf sich genommen und dann in der Dorfschmiede von Sainte-Marie-de-Campan die Gabel repariert. Er brauchte vier Stunden – weil aber ein Geselle den Blasebalg bedient hatte, brummten ihm die Tour-Offiziellen noch eine Strafminute auf. Die Regelauslegung war brutal.Außerdem durften die Fahrer nur selbst mitgeführte Ersatzteile verwenden. Ersatzschläuche waren daher um den Oberkörper gewickelt, Werkzeugtaschen am Rahmen befestigt. Nicht jeden Schaden konnten diese Fahrer-Mechaniker beheben, was immer wieder zur Aufgabe zwang. Fünf Matadore gaben während der 2. Etappe von Le Havre nach Cherbourg über 364 Kilometer auf, 14 unterwegs von Cherbourg nach Brest. Die heftigen Winde des Nordens mögen ihren Tribut gefordert haben, wie auch tags darauf, als auf der ähnlich strapaziösen Strecke von Brest nach La Rochelle ebenfalls 14 Männer ausstiegen. Der Abschnitt war 470 Kilometer lang, nur zwölf weniger als die längste Tour-Etappe überhaupt.Auf der 9. Etappe erwischte es mit Petit-Breton einen der früheren Tour-Sieger, auf der 10. mit Lapize einen zweiten. Nur 54 von 145 Gestarteten erreichten das Ziel in Paris.Sportlich gesehen wurde die Tour ein Triumphzug des Titelverteidigers. Philippe Thys setzte sich bereits auf der ersten Etappe in Le Havre im Spurt nach 388 Kilometern gegen seinen belgischen Landsmann Jean Rossius durch. Tags darauf drehte der den Spieß um. Zeitgleich führten beide bis zum sechsten Tag das Klassement an. In den Pyrenäen, von Bayonne nach Luchon über 326 Kilometer, verlor Rossius mehr als eine Stunde. Die 8. Etappe endete am 5. Juli mit einem Spurt im Velodrom von Marseille – einen Tag später traf Alexander Hoyos, Stabschef im Außenministerium von Österreich-Ungarn, in Berlin Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg, der im Namen Wilhelms II. erklärte: Was Wien nach dem Attentat von Sarajevo auch immer gegen Serbien zu tun gedenke, es könne auf den Beistand des Deutschen Reichs rechnen – ein Blankoscheck für Angriff und Krieg.Der erste KriegstoteThys’ Führungsposition war für den Rest der Tour gesichert. Unbeschadet kam er durch die Alpen. In ernsthafte Schwierigkeiten geriet der Belgier nur auf der vorletzten Etappe. Bei der stürmischen Jagd hinter François Faber, dem Etappensieger des Vortags, zerbrach sein Rad. Eingedenk der Erfahrungen von Christophe suchte er nicht die nächste Schmiede auf, sondern den nächsten Fahrradladen, kaufte ein neues Rad und erhielt eine Zeitstrafe von 30 Minuten. Selbst danach behielt er eine Minute und 50 Sekunden Vorsprung, den er bis nach Paris verteidigte.Zwei Tage nach der Siegerehrung, am 28. Juli, erklärt Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Am 3. August marschieren deutsche Truppen in Belgien ein. Thys, obwohl Belgier, dient bei der französischen Luftwaffe, weil ihm dort Zeit zum Training bleibt – 1917, mitten im Krieg, gewinnt er immerhin das Rennen Paris–Tours. François Faber, bei dessen Verfolgung sich Thys bei der Tour 1914 den Radbruch zugezogen und den Tour-Sieg aufs Spiel gesetzt hat, schreibt sich bei der Fremdenlegion ein. Der Luxemburger gilt seit 1915 als vermisst und wird 1921 für tot erklärt. Der Fahrer Lucien Petit-Breton tritt seinen Dienst in einem Fahrradregiment an und überlebt den Krieg ebenso wenig wie Octave Lapize. Damit kehren drei frühere Tour-Sieger nicht zurück. Der vermutlich erste Kriegstote aus dem 1914er Tour-Aufgebot ist Émile Engel. Bereits im September 1914, nur wenige Wochen nach seinem Sieg auf der 3. Etappe und seiner Disqualifikation fünf Renntage später, stirbt er auf dem Schlachtfeld.Nach 1918 wird der Veranstalter Amaury Sport Organisation (ASO) resümieren, 48 französische Tour-Teilnehmer aus den Jahren vor dem Krieg sind gefallen. Schon ab 1917 leitet Tour-Organisator Henri Desgrange aus der Armee heraus die Fortsetzung des Rennens in die Wege, was einleuchtet, denn nur beim Militär gibt es Räder und Ersatzteile.Es sind nur 67 Fahrer, die sich 1919 körperlich und mental in der Lage fühlen, bei der ersten Nachkriegsrundfahrt an den Start zu gehen. Viele haben sich überschätzt. Nur zehn Sportler kommen in Paris an. Es gewinnt der Belgier Lambot und leitet eine Dekade der Dominanz ausländischer Gesamtsieger ein – durchaus eine Zäsur, denn in den zwölf Rennen vor dem Krieg sind die Franzosen acht Mal erfolgreich gewesen. Historiker führen diesen Unterschied auf den hohen Blutzoll der französischen Jugend zwischen 1914 und 1918 zurück. Auch das Alter der Tour-Sieger steigt nach dem Weltkrieg rapide an. Betrug es von 1903 bis 1914 noch 25 Jahre, so waren bis 1927 alle Champions über 30. Auf den Schlachtfeldern ging eine ganze Radsportgeneration verloren.Die 101. Tour de France 2014 hat die im Ersten Weltkrieg umgekommenen Teilnehmer von einst mehrfach geehrt. In Arras wurden Kränze für François Faber niedergelegt. Am Beinhaus von Verdun gedachte die Tour der 700.000 Menschen, die auf den Schlachtfeldern an der Maas starben. Schließlich hatten die Organisatoren die Route für die ersten Etappen durch Frankreich bewusst entlang der ehemaligen Frontlinien und all der Grabstätten gelegt, die den Krieg nacherzählen. Auf der Straße vom Fort Douaumont nach Verdun war gar der Werbekarawane Stillschweigen befohlen, wenigstens für einen Moment, aus Respekt vor der Geschichte, die nicht nur eine der Gabelbrüche, Sprints und Verfolgungsfahrten ist. Hinter Verdun ging dann das Spektakel wieder weiter.
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