Reist man durch Rumänien, so werfe man die ums Handgelenk tickenden Steine weg, über Bord die Zeitansagen und Sekundenzeiger! Wer mit dem Zug unterwegs ist, folgt anderen Gesetzen, als denen der Beschleunigung. Zwischen zwei größeren Städten vergeht hin und wieder ein halber Tag, und die langsame Einfahrt in den Zielbahnhof wird zur triumphalen Ankunft, wenn sich, wie nicht allerorts möglich, das Namensschild über der Bahnhofsuhr erspähen lässt. Züge fahren hier täglich und meistens ist der 15-Uhr-Zug auch am nächsten Tag der 15-Uhr-Zug, den man auf eines der Gleise gestellt hat, in der Regel jedenfalls ist es so.
Vielleicht komme ich in 15 Jahren zurück
Schaukelt die Eisenbahn durch Transsilvanien, ziehen sich riesige Felder zu einem breiten Farbfilm zusammen, auf dem einzelne Bauern mit Pfluggerät und Gaul den Acker bereiten. Aus der Ferne wirken sie kleingedruckt, wie die Fußnote zu einer Geschichte am Anfang eines neuen Jahrtausends, das sie zurückgelassen hat. Die Perspektive täuscht, je weiter man sich von einem festen Bezugspunkt entfernt: Bauer und Pflug ziehen das Pferd nach Hause. Die Saat, die im Winter aufging, wird die Esser reichlich segnen.
Aus dem ländlichen Raum treten plötzlich Rudimente vergangener Großindustrialisierung hervor. Kurz bevor das siebenbürgische Medias erreicht wird, ragen die Überreste eines Kohletagebaus in die Landschaft, ausgebrannt und bis ans Ende gefördert. Hier wächst kein Gras mehr, eine Spielart von postsozialistischer Mondlandschaft, umsäumt von ausgeweideten Plattenbauten, in denen außer einigen wenigen Zigeunerfamilien niemandem mehr das Dach über dem Kopf zusammenschlägt.
Als ich den Bahnsteig von Medias betrete, ist mein Anschlusszug bereits mit dem Wind gezogen. So kommt es auf dem Vorplatz zu Verhandlungen mit den ortsansässigen Taxifahrern über einen Transfer ins etwa 70 Kilometer entfernte Sibiu (Hermannstadt), da der nächste Zug von der Frau am Fahrkartenschalter erst in gut vier Stunden erwartet wird. Eine Traube von Chauffeuren umringt mich, unter ihnen ein stämmiger, großgewachsener, deutsch sprechender Mann, mit dem ich - nachdem der Preis um mehr als die Hälfte gefallen ist - schnell einig werde und einen alten Dacia besteige. Daniel Gärtner, 32 Jahre alt, Siebenbürger Sachse, ist geboren und aufgewachsen in Medias, wo vor etwas mehr als zehn Jahren noch ein Drittel mehr Menschen lebte. Wer wegen fehlender Arbeit ging, wollte nach Deutschland, Spanien, Italien oder Holland. Gärtner selbst war bis zur Schließung der Firma 1993 als Elektroniker in einem staatlichen Relaiswerk beschäftigt. Danach hat er sein Auto zum Taxi umfunktioniert - man müsse andere Wege gehen als die Väter und Großväter.
Ob er in Rumänien bleiben wolle oder ob es ihn mit seiner Frau - die gerade ihr erstes Kind zur Welt gebracht hat, wie er mir erzählt hat - woanders hinziehe? "Ich bin Optimist, erhoffe aber nicht viel", sagt er. Schon im nächsten Jahr will Gärtner mit Frau und Kind nach Kanada ausreisen, wo bereits Freunde in einer kleinen rumänischen Kolonie in Montreal leben. "Vielleicht komme ich in 15 Jahren zurück, aber meine Kinder sollen in Kanada aufwachsen und zur Schule gehen."
Ob es in der Gegend Konflikte gäbe zwischen Rumänen, Siebenbürger Sachsen, Ungarn und Roma, frage ich, um das Thema zu wechseln. "Sehen Sie, meine Frau ist ungarischer Abstammung, die Mutter rumänisch und der Vater Sachse. Wir leben alle in einem Haus unter einem Dach." Und die Roma? "Zigeuner sind Gauner", sagt Gärtner und ein merkwürdiges Grinsen verzerrt seinen Mund. Wir erreichen Sibiu mit seinem gigantischen Befestigungswall, der im 15. Jahrhundert mehrmals die türkischen Truppen abhielt.
Will man die Lage der in Siebenbürgen lebenden deutschsprachigen Minderheit verstehen, erscheint ein Zitat des 1934 geborenen rumäniendeutschen Schriftstellers Dieter Schlesak hilfreich, der das Schicksal derer, die nach dem II. Weltkrieg heranwuchsen, so beschreibt: "Es war eine absurde Lage, wir waren eingesperrt zwischen Vaterland und Muttersprache und nur im Bodenlosen beheimatet." - Schlesak, der von einer für die Siebenbürger Sachsen "nach dem geschichtlichen Ende und den Verletzungen gestundeten Zeit" spricht, deutet das Dilemma der Nachkriegsgenerationen an: Eine dumpf nationale Tradition habe sie gebunden und lange Zeit jedes Neue zu verhindern versucht. Sie seien von rechtskonservativen Kreisen in der Bundesrepublik instrumentalisiert worden, deren beliebtester Ritus die Landsmannschaftstreffen im Bierzelt unter weißblauer Raute waren.
Die Kunst muss wieder in den Untergrund
"Die Korruption ist so groß, die Hoffnung verloren. Wir glaubten alle, in Rumänien ist wirklich ein neuer Anfang möglich", resümiert Liviana Dan die vergangenen Jahre. Die quirlige Endvierzigerin ist Kuratorin des Brukenthal-Palais, eines spätbarocken Kleinods und dazu eines der schönsten Museen Rumäniens. Hier findet sich die Sammlung Samuel von Brukenthals, Habsburger Gouverneur und Günstling Maria Theresas, Reformer und Kunstmäzen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, der eine beachtliche Sammlung an Malerei, Schmuck, Ikonografie und bibliophilen Schätzen hinterlassen hat. Noch heute sprechen viele von ihm mit Hochachtung, so auch Liviana Dan, deren Augen aufscheinen, als das Gespräch auf Teile der Sammlung kommt, deren beste Exponate noch immer in Bukarest hängen, wohin sie seinerzeit unter der kommunistischen Kulturdoktrin gebracht wurden.
Dass Sibiu in den achtziger Jahren ein Zentrum experimenteller Kunst war, wissen nur wenige, Liviana Dan erzählt mit Begeisterung vom "Phänomen Sibiu", Perfomances in Kellergebäuden, die sie mit ins Leben gerufen hat. Einige der heute bekanntesten jüngeren Künstler traten so erstmals in Erscheinung. "Man muss die Künstler ehren, aber das ist uns nicht gelungen. Die Kunst muss wieder in den Untergrund, muss wieder politisch werden, damit sie ist." Sie schmunzelt, als sie erzählt, dass sie jetzt in der großen Bukarester Wochenzeitung AKADEMIA CATAVENCU eine monatliche Kolumne unter dem Titel "Kunst Geld" schreibt.
Schließlich hat das Brukenthal-Museum sieben Direktoren, die jeder das Zehnfache des Durchschnittseinkommens als Salär erhalten. Auf Liviana Dans Gesicht liegt ein Lächeln, im Grunde sei sie froh, nicht Direktorin zu sein. Lieber kümmere sie sich um die zeitgenössische Kupferstichsammlung und bereite Ausstellungen anderenorts in Rumänien, Österreich oder Deutschland vor. Auf ihr Land angesprochen, meint sie: "Ich habe seit zehn Jahren nicht mehr an Rumänien als Heimat gedacht. Meine Heimat ist überall, Kunst ist überall. Leider ist die Euphorie des Aufbruchs bei uns verflogen, aber wir müssen jetzt rational denken. Ich hoffe, dass die jungen Rumänen, die in Europa studiert haben, ins System hineinkommen und endlich für neue Strukturen sorgen. Die alten sind zu sehr mit einer verkrusteten mafiotischen Gesellschaft verbandelt."
Gott gibt es auch nicht umsonst
Bevor der Nachmittag sich in den Abend neigt, besuche ich noch den Stadtpfarrer der Evangelischen Gemeinde Sibius in seinem Pfarrhaus. Es herrscht Andrang im Vorzimmer, Pfarrer Kilian Dörr hat eine Familie auf die sonntägliche Taufe einzustimmen. Sie wird gebeten, an der Kasse im Nebentrakt 90.000 Lei - etwa ein Drittel des hiesigen Durchschnittgehaltes - zu bezahlen.
"Gott gibt es auch nicht für umsonst", Kilian Dörr, ein agiler Mitdreißiger, zieht die Brauen hoch, als er von seiner Gemeinde zu erzählen beginnt, die durch den Weggang Zehntausender Siebenbürger Sachsen zu Beginn der neunziger Jahre stark dezimiert wurde. "Wir sind hier ein wenig die Zurückgebliebenen, die Heruntergekommenen", glaubt Dörr und fügt hinzu, dass die Kirche eine durch und durch korrupte Gesellschaft nicht ändern könne.
Dass sich die Leiterin des Altenheims der Gemeinde nichts sehnlicher wünscht als ein Sterbehaus mit einem Kühlraum, mag in Deutschland seltsam anmuten. Doch wegen der schlechten Ausstattung der Spitäler in Rumänien müssen die Verstorbenen oft in Besenkammern oder gar auf dem Flur aufbewahrt werden, bis man sie abholt - das ist keine Seltenheit. Jeder noch so kleine Schritt sei da oft schon ein Fortschritt, meint Dörr. Wie die kleine Herberge im Seitengebäude seiner Kirche, die Wanderer zum Verweilen einlädt. "Ich verstehe mich immer wieder als Übersetzer zwischen Menschen, Tieren und Steinen, um Räume zu öffnen. Räume, die dann ausgefüllt werden können mit der Kraft der Beziehungen."
In den lichtüberfluteten siebenbürgischen Dörfer mit ihren an den Ortsrand gebauten Feldsteinkirchen wird heute noch die Messe genau so zelebriert wie vor Jahrhunderten - mit dem Stolz selbst erwählter Einsamkeit. Noch immer sitzen die schlohweißen Männer, einer uralten Tradition folgend, während des Gottesdienstes am Rande der Sitzreihen, um das vermeintlich eindringende Unheil der Sintflut abzuhalten. Dass die Geschichte begonnen hat, über das Deutschtum der Siebenbürger Sachsen hinweg zu gehen, die noch Jahrzehnte nach dem Krieg mehrheitlich "Heim ins Reich" wollten, lässt sich überall spüren. Längst steht den schrumpfenden Landsmannschaften eine demokratisch aufgeklärte Generation gegenüber, deren Heimat nicht mehr "Großdeutschland" heißt. Dennoch bleibt die Geschichte der Siebenbürger Sachsen, die als "die Bewacher von Auschwitz" mit dem Genozid der Nazis verbunden waren und jahrzehntelang nach der alten Heimat als "ihrem arischen Volksraum" gerufen hatten.
Ein Aufbruch in eine andere Zeit, die spätestens 1990 begann, könnte lehren, dass ein Zusammenleben verschiedener Volksgruppen mit Respekt und Akzeptanz möglich ist. Erste Schritte, die Pfarrer Dörr den berühmten Tropfen auf den heißen Stein nennt, sind getan: ein Straßenkinderheim, das gerade eröffnet wurde, nimmt auch Zigeuner auf.
Mein Weg zurück durch Siebenbürgen führt durch Copsa Mica (Kleinkopisch). Im Ort erinnert eine Gedenktafel an Hermann Oberth, einem im heutigen Sibiu geborenen V2-Konstrukteur und Ziehvater Wernher von Brauns, so als wäre man in einer x-beliebigen westdeutschen Kleinstadt unterwegs. Nur die Häuser sind hier hundertmal schwärzer vom Auswurf der Brikettfabrik, deren Ruß noch bis in die neunziger Jahre hinein den Himmel verdunkelte. Dass man jeden Sommer die Häuser schrubbte, um den Dreck abzuwaschen, was misslingen musste, weil die Rußfabrik Tag und Nacht ihren Dreck schickte, wird in Copsa Mica gern erzählt. Eines Tages habe der Ascheregen aufgehört, als unter dem Protest der Arbeiter, die in den ewigen Feierabend entlassen wurden, das Werk seine Tore für immer verschloss. Die Stadt sei töter als tot seitdem.
Es ist ein heißer Sommertag und der nächste Zug, gegen zwölf Uhr Mittag, ist bereits der letzte, der die Stadt verlässt. In gut 13 Stunden erreicht man Budapest, eine halbe Welt weiter, zwei Stufen rauf aus dem armen Europa in die vorwestliche Beitrittszone.
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