Eine eigene Geschichte

Im Winter ist die Stadt eine Verneigung vor Alfred Lichtenstein, dachte Lu Haselhuhn, als er den Kottbusser Damm hinunter schlenderte. Lu, der ...

Im Winter ist die Stadt eine Verneigung vor Alfred Lichtenstein, dachte Lu Haselhuhn, als er den Kottbusser Damm hinunter schlenderte. Lu, der eigentlich einen bürgerlichen Namen besaß, hatte vor Jahren den Universitätsausweis eines chinesischen Lehramtsstudenten auf der Straße gefunden und sofort dessen eigenartigen Namen angenommen.

Lu trieb sich als Saxophonspieler (Tenor) durch die Stadt und trat meist in größeren Kapellen auf, wo sein Spiel, das eher von geringer Klasse, nicht sonderlich auffiel. So trank er kostenlos abends in Kneipen leicht verkorkten Rotwein und ging mit seinem zugegeben merkwürdigen Gesicht an diesem Nachmittag Richtung U-Bahnhof Schönleinstraße, einen gelben Stoffbeutel in der Hand.

Lu Haselhuhn war bekannt, das Haus nicht ohne einen Stoffbeutel zu verlassen. Er ging damit nicht nur einkaufen, sondern auch auf Vernissagen und zu seinen abendlichen Kneipenauftritten. Wurde Lu einmal ohne einen Stoffbeutel gesehen, musste es sich um eine Verwechslung handeln. Dann war das nicht Lu, sondern einer der vielen, ihm wie aus dem Gesicht geschnittenen Epigonen. Lu hatte an diesem Nachmittag versucht, in einem Lokal in der Pflügerstraße einen Auftritt klarzumachen, als er, wie gesagt, den Kottbusser Damm entlangschlurfte. Fast hatte er sich dem Eingang der Untergrundbahn genähert, als er sich über die Werbung in einem der Schaufenster wunderte, in dem, es musste eine Bäckerei sein: »Wir backen täglich« geschrieben stand. Er fragte sich, was Bäcker außer täglich zu backen, so tun. Wahrscheinlich waren auch sie mit der Erziehung der Hirse und Kleie beschäftigt und kamen nicht mehr zum Backen, dachte Lu Haselhuhn. Als er sich im Sog mit anderen Passanten der U-Bahnstation entgegen kommen sah, wusste er nicht, ob er schon soeben an dem blauen Schriftzug vorbeigeschritten war. Schließlich war alles nur eine Wiederholung, die ihn dazu führte, bestimmten Details ihre Bedeutung abzusprechen. Vor zwei Wochen zum Beispiel hatten sich zwei eher zwielichtige Gestalten auf den Treppen zum Bahnsteig geprügelt. Er hatte versucht, sich das genau einzuprägen, doch es war ihm irgendwie abhanden gekommen. In seiner, einigermaßen zusammenhanglosen Erinnerung, tat sich Folgendes: »Du Schlampe, ich kratz dir die Augen aus«, sagte eine der Frauen, die sich der anderen, am Geländer der Treppe zum U-Bahnschacht festhaltenden Person zuwandte und alsbald, auf einige heftige Widerworte versuchte, mit ihrer Handtasche im Gesicht der, wenn auch ebenso hilflos verlorenen, Person zu punkten. Lu Haselhuhn war eine Weile stehen geblieben oder bereits zwischen den Frauen die Treppe hinuntergegangen; er hatte die Schlägerei von der anderen Straßenseite aus beobachtet, bis eine der Frauen die Treppen hinunterfiel von einem heftigen Stoß. Lu Haselhuhn war die Rolltreppe hinaufgefahren und hatte die Polizeisirene aufheulen gehört und prompt den entgegengesetzten Ausgang genommen, nachdem er eine am Kopf blutende Frau aus dem Augenwinkel heraus gesehen hatte und eine zweite, ebenfalls am Boden liegende Person. Lu war entgegen seiner Gewohnheit eine Station weitergefahren als sonst und erst am Hermannplatz ausgestiegen, als er einen Polizeiwagen vorbeibrausen sah Richtung Kottbusser Tor; worauf er in die Tierabteilung des anliegenden Kaufhauses ging, um sich einen umfassenden Eindruck von den dort vorgehaltenen Papageien, insbesondere den Rotköpfchen zu machen. Als die Treppen des Warenhauses ihn ausgespuckt hatten, stand Lu gestikulierend in seinem Sportantiquariat und versuchte den Preis für ein Fußballweltmeisterschaftsbuch von 1954 zu drücken, als er auf die Uhr sah und die angezeigte Zeit ihn veranlasste, schleunigst den Laden nach Bezahlen des Buches, welches der Antiquar um einen Euro verbilligte, zu verlassen.

Lu Haselhuhn spazierte leichten Schritts, einen gelben Stoffbeutel über das Handgelenk geworfen, Richtung U-Bahnhof Schönleinstraße. Er ließ einige verheißungsvolle Läden rechts liegen und steuerte zielstrebig den Eingang der Metrostation an, als er näher kommend, zwei wie es ihm schien, nicht mehr ganz taufrische Nutten mit einem in Leder gekleideten breitschultrigen Mann auftauchen sah, deren Gespräch im Geräuschpegel der Straße unterzugehen schien. Als er die drei passierte, wunderte er sich über den blauen Schatten unter dem linken Auge der einen Frau beziehungsweise die Kratzer im Gesicht der anderen, wie er sofort erkannte, Prostituierten. Die drei waren in ein heftiges Gespräch vertieft, deren Inhalt Lu nicht folgen konnte, da er nur einige Satzfetzen, beim raschen Vorbeigehen, aufschnappen konnte.

Lu schlenkerte mit seinem Beutel, als er in die U8 stieg und fixierte ein Mädchen, genauer eine junge Frau, die seinen Blick kurz erwiderte. Er versuchte, die sechs Stationen seiner Fahrt nicht allzu oft zu ihr hinüberzuschauen und war erleichtert, als der Name seines Zielbahnhofes auf dem Tableau auftauchte. Er versuchte, sich nicht noch einmal nach ihr umzudrehen und als er während des Aussteigens noch einen letzten Blick riskierte, sah er ihren Kopf in einem Kriminalroman versunken. Obschon sie die ganze Zeit nicht gelesen, sondern nur nervös an ihrer Umhängetasche genestelt hatte, war er verwirrt, als er auf die Straße hinaustrat. Hatte sie wirklich nicht gelesen, überlegte er kurz. Hatte sie nicht über und über mit einem Fingernagel hastig in ein schwarzes Übertragungsgerät getippt und dabei das eine und andere Mal den Mund leicht verzogen?

Lu drückte gegen die Haustür, die ächzend nachgab und schloss, sichtlich erleichtert, hinter sich die Tür, als seine gestreifte Katze ihn mit einem hellen Glucksen empfing und er, auf den Fußboden gebeugt, in ihre Vorderpfoten sank.

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