Hiddenseer Tagebuch

Kehrseite II Kolumne

Sonntag:
Auf der Fähre sind wir das grün leuchtende Bier: Niemands Wolken und launige See. Auf dem Sonnendeck haben wir uns aus dem Wind eine leichte Zigarette gedreht. In Stralsund das Schiff besteigend, liegen wir eng an den roten Bojen. Die Insel von Ferne: ein anderes Land, in dem wir vergessen wollen.

Montag:
Verlass die Zäune, denn in Neuendorf folgt man einfach seinen Zehen. Ich leih dir ein gelbes Pony aus, mit dem wir spazieren gehen! Ganz nah ist das Binnenmeer: Wir hören es rauschen wie eine Autobahn für Melancholiker, vorerst noch leise. Sonne, Wind und Meer. Die klassische Bandbesetzung. Schilfdächer verraten, dass der Himmel nicht aus Pappe und ungewellt. Es könnte sein, dass die wenigen Häuser sich etwas zutragen: Der letzte Schnee lag hier vor genau 15 Jahren. Es gibt ein Foto davon mit weißen Flecken. Urlauber schlendern im Partnerlook, Paarhufer und Kaffeesachsen. Es gibt hier keine Fremdenzimmer, aber die Schwalben verzeihen jedem.

Dienstag:
Mit einem Tandem, das Sonnenkraft tankt, sinnieren wir auf Deichen und Waldzungen. Nur jede volle Stunde passiert uns ein Gepäckbuggyfahrer, der ein wenig Ähnlichkeit mit Frank O´Hara hat, und eine von Rapsöl betrunkene Baumaschine grüßt uns am Wegrand mit einem Schluckauf.

In der Fischerklause am Hafen von Vitte ist der Wirt bereits am frühen Nachmittag wieder blau und schwankt zwischen neuer Innerlichkeit und sanftem Tourismus. Wir verlangen Weißbier und bekommen gelbe Blumen mit weißen Blütenblättern.


Mittwoch:
Dass Leuchttürme ständig Licht aussenden, nur weil sie die Augen nicht schließen und niemals schlafen können, wissen nur wenige. Trotzdem hat man die meisten von ihnen eingeschläfert. Jetzt werden die Meere von Öl-Plattformen aus mit bleifreiem Kunstlicht bestrahlt, von den Feuerschiffen gar nicht zu sprechen, die ausgestorben sind oder ausgeweidet im Knochenhof der Werften liegen.

Der Leuchtturm von Hiddensee, von dem aus man jeden Sanddornstrauch der Insel nach Liebespaaren absuchen kann, trägt einen rotweißen Trainingsanzug und hört auf den Namen Bernd-Joseph. Gegen ein Trinkgeld von 2,50 Euro (mit Kurkarte nur 1,50) kann man mit ihm eine Partie Rasenschach spielen.


Donnerstag:
Am fünften Tag ist das Meer endlich erwacht und beginnt zu schäumen. Wir werfen uns in die Wellen wie in einen Jungbrunnen. Gegen dieses Zeitalter helfen nur elementare Vereinigungen und die Zuversicht der Seeschwalben, sich immerzu senkrecht aus dem Himmel zu stürzen!

Es wird Abend und die Eintagestouristen werden in Passagiergastgröße eingedampft und ans andere Ufer verschifft. Am Strand sitzen jetzt Sehnsuchtsbrigaden, von Weinlaub bewachsen, und die übrigen Sonnenuntergangsbesucher haben alles gesehen mit ihren Kodak-Köpfen.


Freitag:
Im Hafen umarmt ein Kind zum Abschied eine Laterne.

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