1968, Gewalt, Rotstift: Wie der Aufstand der Jugend erklärt wird

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Vor ein paar Tagen hat Heribert Prantl in der Süddeutschen den „Heiligen Zorn der Jugend“ vermessen, ein Zorn, der ein ziemlich irdischer ist. Was in London und anderen britischen Städten „so sprachlos gewalttätig, so destruktiv sinnlos und so niederträchtig“ daherkam, zeigt sich friedlich auf den Plätzen von Madrid, Jerusalem und Santiago – Proteste, und das ist das auf den ersten Blick Verbindende, angeführt von einer Generation. Dort sind es Zehntausende, die wochenlang auf die Straße gehen; hier sind es ein paar Dutzend, die ihre Zelte - das verbindende Symbol einer neuen „globalen Bewegung“ - auf dem Alexanderplatz aufschlagen wollten. Stéphane Hessels Parole „Empört Euch!“ hat die Massen schneller ergriffen, als es wohl manch freundliche Beachtung des dünnen Bändchens gewollt hatte.

Umso mächtiger drängt das Echo von Hessels Forderung, jenes „Aufbegehren der Jugend“ inzwischen als Thema in die Feuilletons zurück. Das Angebot an Deutungen ist reichlich: Mal wird es mit nachholender bürgerlich-demokratischer Modernisierung erklärt, mal als kaum ausformuliertes Unbehagen der Abgehängten mit „denen da oben“, mal will man in den Demonstrationen einen Ausdruck der Krise der real existierenden parlamentarischen Repräsentation sehen, und mal spontane Ausbrüche in all ihrer Widersprüchlichkeit. Wofür demonstrieren die Jugendlichen? Das, schreibt Thomas Steinfeld, sei „nicht klar zu erkennen, abgesehen davon, dass die meist friedliche, machmal aber auch gewalttätige Vorführung von Enttäuschung oder Verbitterung ganz offensichtlich zumindest der eine Zweck“ sei.

Historische Folien

Man könnte drei Punkte beschreiben, um die das Raster der Versuche geknüpft ist, die „Aufstände“ zu verstehen. Da wäre ersten der große Vorrat an historischen Folien, die sich über die aktuellen Ereignisse legen lassen: „Erleben wir eine neue 68er-Bewegung?“, fragt Heinz Bude in der Zeit, um in der Utopie- und Hoffnungslosigkeit der Heurigen einen „entscheidenden Unterschied“ zu den sechziger Jahren zu sehen – und in der sozialen Stellung und der kulturellen Kompetenz der Demonstranten die große Ähnlichkeit. Franz Walter hat im Freitag einen anderen Bogen geschlagen – den in vorindustrielle Zeiten, als der „Mob“, jene „typische Sozialfigur“, also „die Tagelöhner, Bettler, die Armen und Ausgeschlossenen (…) sich immer wieder, aber ganz erratisch zu militanten Protesten zusammenwürfelten“. Christian Semler hat sich in der Tageszeitung mit Marx' Begriff vom „Lumpenproletariat“ beschäftigt, um dann die Londoner Riots doch lieber mit der Kriminalitätstypologie des amerikanischen Soziologen Robert Merton zu erklären – der hat jene, die zur Erlangung ihrer Ziele, etwa ein gutes Leben, zu illegalen Mitteln greifen, als „Innovatoren“ bezeichnet.

Damit zusammen hängt ein zweiter Punkt: die Gewaltsamkeit, die meist am Londoner Beispiel diskutiert wird, nicht aber etwa mit Blick auf Griechenland, wo das Thermometer der Militanz in diesem Jahr auch schon öfter ins Fiebrige ausschlug. „Die Blödheit der Randalierer hat es der Regierung erleichtert, in der eigenen Dummheit zu verharren. Sie antwortet auf soziale Desintegration allein mit Repression“, sagt Prantl. „Ein sonderbares Durcheinander von Hooliganismus, Terror, Kriminalität“ hat in der Tageszeitung auch Georg Seeßlen beobachtet und bleibt skeptisch: „Ein guter Aufstand hat ein Ziel und einen Diskurs. Ein schlechter Aufstand bricht aus oder entzündet sich. Ein guter Aufstand benennt den Gegner und sucht nach Allianzen. Ein schlechter Aufstand kommt übers 'Wir zeigen es denen' nicht hinaus. Ein guter Aufstand formt in seinem Protagonisten Selbstbewusstsein, ein schlechter Aufstand erzeugt Rausch und Katzenjammer. Ein guter Aufstand hat Adressaten, ein schlechter Aufstand hat Opfer. In einem guten Aufstand geht es um Ideen und um Ideale, in einem schlechten Aufstand geht es um Randale, Flachbildfernseher und Schnaps. So einfach ist das?“

Pyromanen? Oder Politik?

Eben nicht. Und wenn in Berlin Autos angezündet werden, dann ist das so wenig schon Terrorismus, wie es der Hauptstadt-Wahlkämpfer meint, wie es kaum mit einfachen Schlagwörtern zu erklären ist: Sind Pyromanen am Werk? Versicherungsbetrüger? Ist das überhaupt politisch? Und wie weit ist London noch weg? Andrej Holm, der sich durch Studien über Gentrifizierung einen Namen machte, hat mit Blick auf die englischen Krawalle geschrieben, diese „verschließen sich einer klassischen Ursache-Wirkungs-Erklärung, weil es ganz offensichtlich überlagernde Motivlagen gibt. Umverteilungsaspekte von Plünderungen haben andere Ursachen als die scheinbar ziellosen Zerstörungswut, oder ein aufgestauter Hass auf die Polizei oder die abendliche Kompensation des schulischen oder beruflichen Leistungsdruckes. Aufstände wie in London sind gerade in ihrer scheinbaren Ziellosigkeit Ausdruck der wachsenden Desintegration in den westlichen Gesellschaften. Und eben darin liegt auch die Vergleichbarkeit zur Berliner Situation.“

Der Heidelberger Pädagoge Wilhelm Heitmeyer hat davor gewarnt, den „Jugendlichen nun Moral vorzuhalten, ihre Verwahrlosung anzuprangern“, wie es die britische Politik getan hat, und dabei mit Internetabschaltung und Armee drohte. Damit würden nur „neue Anerkennungsdefizite“ erzeugt und die „Repressionsinkonsistenz“ erhöht, was wiederum „die Voraussetzungen für neue gewaltsame Unruhezyklen“ schaffe. Zumal, und hier macht Heitmeyer einen durchaus umstrittenen Zusammenhang geltend, „zumal die sozialen Kürzungen erst noch kommen“.

Austerity and Anarchy

Womit ein dritter Punkt markiert wäre: der Zusammenhang zwischen Krise, staatlicher Bewältigung, Sparprogrammen und sozialen Unruhen – wobei der Begriff hier nicht in der beschränkten und pejorativen Weise verstanden werden sollte, in der er meist auftaucht. Die Kölner Soziologen Jens Beckert und Wolfgang Streeck haben in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine das bisherige Krisenmanagement für gescheitert erklärt - und sagen eine „nächste Stufe“ voraus, in der „die Krise auf das soziale System übergreifen“ wird. „Anzeichen finden sich bereits in steigender Arbeitslosigkeit, Auswanderung und Gewaltausbrüchen in besonders betroffenen Ländern. Egal, ob durch Sparpolitik, Schuldenschnitt oder Inflation, die bevorstehende massive Reduzierung von Vermögen und Einkommen wird Konflikte hervorrufen.“

Schuldenschnitt und Inflation stehen derzeit nicht auf der Agenda, derweil rollte die Welle der Ausgabenkürzungen durch immer mehr Staaten. Dass die Einschnürung öffentlicher Haushalte gesellschaftliche Schäden produziert und das hoch gelobte „Sparen“ zugleich der Politik die Mittel für deren Behebung oder wenigstens Einhegung aus der Hand nimmt, wird dabei immer offensichtlicher. Dabei ist das Geld eben nicht einfach „weg“ oder gedankenlos und zu Lasten der jungen Generation, die nun protestiert, verprasst. Die Schulden der Staaten sind immer noch Vermögensansprüche derer, die in der Regel bereits eines haben. Es stelle sich, schreiben Beckert und Streeck, „in der Schuldenkrise die Frage, ob und mit welchen Mitteln die Wohlhabenden versuchen werden, ihre Position auch um den Preis einer massiven sozialen und politischen Krise zu verteidigen. Wir können nicht ausschließen, dass sie die Schrift an der Wand auch weiterhin nicht verstehen wollen.“

In London steht das Menetekel als Ruß auf der Brandmauer, anderswo haben es Jugendliche auf ihre Plakate geschrieben. Spart ihr an uns, steigen wir euch aufs Dach. So wenig es sinnvoll wäre, den Zusammenhang zu vereinfachen und überzustrapazieren, so wenig wird man behaupten können, dass es ihn nicht gibt. Die Wirtschaftshistoriker Hans-Joachim Voth und Jacopo Ponticelli haben gerade ein Diskussionspapier zum statistischen Zusammenhang zwischen sozialen Unruhen und politischem Rotstift veröffentlicht. Die Frankfurter Allgemeine hat das Ergebnis auf eine einfache Formel gebracht: „Wenn der Staat seine Ausgaben um einen Prozentpunkt kürzt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Demonstrationen, Aufständen und revolutionären Umstürzen kommt, um das Eineinhalbfache.“

Stuhltanz der kapitalistischen Krise

Voth und Ponticelli sind durch die Unruhen in Griechenland vor einem Jahr auf ihr Thema gekommen und haben sich in 28 europäischen Ländern über einen Zeitraum von 90 Jahren (1919 bis 2009) angeschaut, ob es einen Zusammenhang zwischen „Austerität und Anarchie“ gibt. Was man für naheliegend halten könnte, sehen die beiden aus wissenschaftlicher Perspektive als erstaunlich an: „Denn zum einen war die Mehrheit der Ökonomen bisher davon überzeugt, dass Budgetkürzungen gut fürs Wirtschaftswachstum seien (obwohl es Gründe gibt, an dieser Überzeugung zu zweifeln). Zum anderen hat sich gezeigt, dass Regierungen, die auf Sparhaushalte setzen, normalerweise deswegen nicht um ihre Wiederwahl fürchten müssen“, wie es Voth in der Frankfurter Rundschau formuliert.

Heribert Prantl hat in seinem Text über den „Heiligen Zorn der Jugend“ die sozialen Verhältnisse in den am meisten von den Krisenschulden belasteten Ländern mit jenem Stuhltanz beschrieben, den man von Kindergeburtstagen kennt. In dem Spiel scheidet immer ein Spieler aus, weil eine Sitzgelegenheit fehlt. Im wahren Leben, so Prantl, „ist es viel schlimmer: Es unterscheidet sich in Spanien, Großbritannien, Italien, Israel oder Deutschland dadurch, wie viele Stühle weniger aufgestellt sind. Und weil die Musik zu selten spielt, bleiben die sitzen, die schon sitzen und die stehen, die schon stehen.“

Bis sie einfach nicht mehr mitmachen. Die einen gehen raus auf die Straße und protestieren. Und die anderen zerschlagen den Plattenspieler.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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