„Unseren Einfluss geltend machen“: Deutschland und Tunesien

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Merkels Einfluss
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte am Freitagabend am Rande einer CDU-Vorstandsklausur in Mainz: "Wir werden unseren Einfluss geltend machen, dass dort möglichst die Dinge friedlich von statten gehen und möglichst wenige menschliche Opfer zu beklagen sind." Die Lage in Tunesien sei ausgesprochen ernst. "Der Stillstand im Lande hat die Menschen sehr ungeduldig gemacht." Deutschland werde die Lage sehr genau beobachten.
Nachrichtenagentur dpa, 14. Januar - hier

Wichtiger Partner gegen Islamisten
Menschenrechtsorganisationen bemängeln seit Jahren Einschnitte bei Presse- und Meinungsfreiheit sowie Repressalien gegen Oppositionelle und starke staatliche Überwachung. Die Rede ist von Folter politischer Gefangener und fortgesetzter Isolationshaft. Der Westen kritisierte regelmäßig die Lage der Menschenrechte in Tunesien, doch wegen seines entschlossenen Vorgehens gegen Islamisten galt Ben Ali als wichtiger Partner. Auch angesichts wirtschaftlicher Erfolge und der Millionen Touristen, die das Land jedes Jahr aufsuchen, sahen die westlichen Regierung in dem tunesischen Staatschef kein größeres Problem.
Nachrichtenagentur AFP, 14. Januar - hier

Verfolgt und schikaniert
Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit waren stark eingeschränkt. Journalisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger wurden strafrechtlich verfolgt und schikaniert. Es gab Berichte über Folterungen und Misshandlungen von Gefangenen. Mindestens 450 Menschen wurden in unfairen Gerichtsverfahren wegen Anklagen im Zusammenhang mit Terrorismus zu Gefängnisstrafen verurteilt.Amnesty International, Dezember 2008 - hier

91 Prozent deutscher Firmen zufrieden
Laut einer aktueller Erhebung sind 91 Prozent der deutschen Unternehmen sehr zufrieden mit dem Standort Tunesien. Hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit sind wir die Nummer eins unter den Ländern am südlichen Rand des Mittelmeers und in Afrika. Außerdem bietet ein Investitionsförderungsgesetz für ausländische Unternehmen Steuervorteile. (...) Wir setzen nach wie vor auf den Tourismus, als eine unserer Haupteinnahmequellen. Jährlich besuchen etwa sieben Millionen Touristen Tunesien. Im Jahr 2000 hatten wir über eine Million deutsche Touristen. Leider hat sich diese Zahl im Jahr 2009 halbiert. Nicht nur wegen der Weltwirtschaftskrise, sondern auch der deutsche Geschmack hat sich verändert. Es ist mittlerweile weniger der Sonnenstrand-Tourismus gefragt. Daher setzten wir vermehrt auf Kultur- und Sporttourismus sowie Konferenztourismus. Außerdem ist Tunesien ein sicheres und stabiles Land.
Alifa Chaabane Farouk, tunesische Botschafterin in Berlin, November 2010 - hier

Auf der Linie nachhaltiger Reformen
Die Bundesregierung dringt auf eine Umsetzung der vom tunesischen Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali versprochenen Reformen. Nach Angaben eines Sprechers des Auswärtigen Amtes sind Ben Alis Ankündigungen in Berlin mit Interesse verfolgt worden. Wichtig sei jetzt eine konkrete Umsetzung, die in einem "nachhaltigen und dauerhaften Reformprozess" münde. Auf dieser Linie sei auch ein Gespräch mit der tunesischen Botschafterin Alifa Chaabane Farouk verlaufen. Die Botschafterin war am Freitag zu einem Gespräch mit dem Beauftragten für die Region, Botschafter Andreas Michaelis, in das Auswärtige Amt gebeten worden.
Nachrichtenagentur dpa, Januar 2011 - hier

Eine gute Adresse für Investitionen
Tunesien ist einer der wichtigsten Handelspartner Deutschlands in der Region und auch aufgrund der positiven gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sowie der Lage – als Drehkreuz zwischen Europa, Afrika und der arabischen Welt – ein attraktives Land für deutsche Exporte. Eine gute Adresse für Ihre Investitionen. Qualifizierte Arbeitskräfte, Investitionsanreize und eine leistungsfähige Infrastruktur – Tunesien hat viele Anstrengungen unternommen, um sich zu einem Standort mit Zukunft zu entwickeln. (...) Fazit: Grundsätzlich spricht vieles für Tunesien.
Deutsch-Tunesische Industrie- und Handelskammer - hier

Westerwelle ist besorgt
Seit dem 17. Dezember 2010 protestieren in Tunesien tausende Menschen gegen hohe Arbeitslosigkeit und für mehr politische Freiheit. Die Polizei geht hart gegen die Protestierenden vor. Nach offiziellen Angaben starben bisher 29 Menschen bei den Unruhen, Menschenrechtsgruppen gehen von über 60 Toten aus. Am 12. Januar kam es erstmals auch in der Hauptstadt Tunis zu heftigen Zusammenstößen. Die Regierung hat Ausgangssperren verhängt und Schulen und Universitäten geschlossen. Als „zutiefst besorgniserregend“ hat Außenminister Guido Westerwelle die Nachrichten über die eskalierenden Unruhen in Tunesien bezeichnet. „Wir erwarten, dass das massive Vorgehen gegen Demonstranten ein Ende hat“, erklärte Westerwelle am 13. Januar in Berlin. Die grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte sowie rechtsstaatlichen Prinzipien müssten gewahrt und geschützt werden.
Auswärtiges Amt, Januar 2011 - hier

Solides soziales Fundament
Die Wirtschaft steht zudem auf einem soliden sozialen Fundament. In keinem anderen Land der Region konnte sich während der letzten zwanzig Jahre eine so breite Mittelschicht herausbilden wie in Tunesien. Etwa 70 Prozent der Bevölkerung werden ihr zugerechnet, die Quote der absoluten Armut liegt nach Angaben der Weltbank bei lediglich 4 Prozent. Eine ausgeglichene gesellschaftliche Struktur ist zwar noch kein Garant für politische Stabilität, macht das Land aber weniger anfällig für extremistische Strömungen.
T.C.I. Tunisia Consulting International - hier

Eine verzweifelte Tat als Auslöser der Proteste
Auslöser der Proteste in Tunesien war der Tod von Mohamed Bouazizi Mitte Dezember 2010. Der 26-Jährige arbeitslose Akademiker beging Selbstmord, nachdem die Polizei seinen Obst- und Gemüsewagen beschlagnahmte, und ihm damit seine einzige Einkommensquelle nahm. Die verzweifelte Tat entfachte eine Protestwelle, an der sich Gewerkschafter, Studenten, Menschenrechtsaktivisten und Anwälte beteiligen. Sie fordern Arbeitsplätze, bessere Lebensbedingungen und die Bekämpfung von Korruption in dem nordafrikanischen Land.
Amnesty International, Januar 2011 - hier

Eng, vertrauensvoll, vielfältig
Die deutsch-tunesischen Beziehungen, wie auch die zwischen der Europäischen Union und Tunesien haben seit langem ein hohes Niveau. (...) Weiteres Potential sollte von beiden Seiten genutzt werden. Deutschland ist der drittgrößte Handelspartner Tunesiens. Die akkumulierten Direktinvestitionen deutscher Unternehmen in Tunesien haben mit über 370 Millionen Euro einen beträchtlichen Stand erreicht. (...) Deutscher Tourismus hat für Tunesien weiter einen besonderen Stellenwert. Die Zahl der deutschen Touristen, die jährlich nach Tunesien kommen, liegt bei etwas über 500.000. (...) Die kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Tunesien gestalten sich eng. (...) Die deutsch-tunesische Kooperation ist somit insgesamt eng, vertrauensvoll und vielfältig.
Horst-Wolfram Kerll, deutscher Botschafter in Tunesien - hier

Gelder für die "Kontrolle des Migrantenstroms"
Tunesien gilt als "Modell für die euromediterrane Zusammenarbeit" (Romano Prodi) und "demokratischer Hoffnungsschimmer". Ben Alis Wiederwahl zum Staatspräsidenten im Oktober 2004 mit einem Stimmergebnis von 94,45 Prozent spricht allerdings nicht gerade für demokratische Verhältnisse. Trotzdem gelingt es Ben Ali, sich als Präsident mit weißer Weste zu präsentieren - zuletzt etwa durch die Ausrichtung des Weltgipfels über die Informationsgesellschaft (WSIS). Ein Großteil der EU-Gelder versandet im korrupten Regime. Die von der EU geforderten Privatisierungen dienen vor allem Ben Alis Klientel- und Sippenwirtschaft. Die spärlichen EU-Fördermittel für die Zivilgesellschaft kommen nur selten bei den Akteuren an. Gelder für missliebige Organisationen, wie etwa die tunesische Menschenrechtsliga, werden von der Regierung in Tunis blockiert. Auch der Projekt-Titel "Zivilgesellschaft" täuscht oft: Die 2,15 Millionen Euro zur Förderung der Medien kamen vor allem Ben Alis Propagandainstrumenten zugute, weil unabhängige Medien in Tunesien schlichtweg nicht existent sind. Bei dem EU-Programm "Modernisierung der Justiz" verschwand das Thema "Justizreform" schnell in der Versenkung. Stattdessen ist nun ein Teil der Gelder für die "Kontrolle des Migrantenstroms" und den Kampf gegen "neue Formen der Kriminalität" vorgesehen.
David Siebert, iz3w Nr 290, Frühjahr 2006 - hier

Ein stabiler Markt
Insgesamt bleibt Tunesien für deutsche Unternehmen ein stabiler Markt, der zwar relativ klein aber durchaus noch ausbaufähig erscheint. Nach der deutschen Außenwirtschaftsstatistik haben die Exporte nach Tunesien 2007 nahezu 1,3 Milliarden Euro erreicht und 2008 dürften sie nochmals um 10 bis 12 Prozent gestiegen sein. Deutschland ist mit einem Anteil von 8 Prozent an den tunesischen Importen nach Frankreich und Italien das drittwichtigste Lieferland - allerdings mit einem deutlichen Abstand zu den beiden Konkurrenten, die einen Marktanteil von jeweils ca. 20 Prozent haben. Diese abgeschlagene Wettbewerbsposition ist nach Ansicht von Beobachtern wie der Deutsch-Tunesischen Industrie- und Handelskammer nicht nur auf die eingefahrenen Beziehungen mit den beiden Mittelmeeranrainern zurückzuführen. Eine gewisse Ignoranz des tunesischen Marktes von Seiten der deutschen Unternehmen spiele ebenfalls eine Rolle. Bei größerem Einsatz könnte die deutsche Exportwirtschaft ihren Anteil am tunesischen Außenhandel deutlich ausweiten.
Germany Trade & Invest (ehem. Bundesagentur für Außenwirtschaft), März 2009 - hier

Foto: Fethi Belaid/AFP/Getty Images

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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