„Wir kommen gleich“

Hartz-Gespräche Dem Scheitern folgen die Schuldzuweisungen. Die Koalition setzt nun auf den Bundesrat. Um die Betroffenen geht es bei alledem nur am Rande

Es ist von großer Symbolik, dass die Verhandlungen zur Hartz-Reform genau ein Jahr nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gescheitert sind. Am 9. Februar 2010 hatten die Karlsruher Richter der Regierung aufgegeben, einen verfassungsgemäßen Zustand beim Arbeitslosengeld II herzustellen. Die Vier-Parteien-Koalition der Verhandler konnte, besser: wollte diesen Auftrag bisher nicht erfüllen. Um kurz nach Mitternacht verkündete die Arbeitsministerin, was sich tags zuvor bereits abgezeichnet hatte: das Scheitern der Verhandlungen.

Jetzt ist von einem „Totalversagen mit Ansage“ die Rede. Dass es am Dienstagabend nicht mehr wirklich um eine Einigung gehen würde, zeichnete sich früh ab. Angela Merkel hatte die Erwartungen so tief wie möglich gehängt. Am Abend sickerte durch, dass die Koalition auf jeden Fall am Freitag im Bundesrat über die Hartz-Reform abstimmen lassen werde – unabhängig davon, ob eine Einigung „mit der Opposition“ zustande kommt. Und ein nächstes Zeichen setzte die Arbeitsministerin: Beobachter der Gespräche in der saarländischen Landesvertretung merkten auf, als Ursula von der Leyen schon kurz vor 22 Uhr den wartenden Journalisten ankündigte: „Wir kommen gleich.“

Dass es dann doch noch ein wenig dauerte, hat mit der Dramaturgie solcher „letzten Gelegenheiten“ zu tun: finale Angebote werden präsentiert, Auszeiten genommen, Vorschläge zurückgewiesen – Vorbereitungen für das große Rennen der Schuldzuweisungen. SPD-Verhandlungsführerin Manuela Schwesig nannte Merkel eine „eiskalte Machtpolitikerin“, ganz so, als ob es sich bei der Sozialdemokratie um eine Art soziale Wärmestube handelt. FDP-Generalsekretär Lindner malte ein „erhebliches Paket“ an die Wand, das Schwarz-Gelb da geschnürt habe, auf das SPD und Grüne aber nicht eingehen wollten. Und schließlich, daran erinnerte Lindner gern, gingen die Hartz-Gesetze doch auf Rot-Grün selbst zurück.

Alternative Berechnungen

Vom politischen Schlagabtausch haben die 4,8 Millionen Erwachsenen und zwei Millionen Kinder, um deren alltägliches Leben hier eine Entscheidung versagt wurde, gar nichts. Was Rot-Grün und Schwarz-Gelb als unüberbrückbare Differenzen vor sich herschieben, ist aus dem Blickwinkel der Betroffenen kaum als Unterschied auszumachen: Ob der Regelsatz nun um fünf oder elf Euro angehoben wird, ändert an ihren Teilhabechancen nur wenig – und es klingt beides nicht nach „Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“, den die Karlsruher Richter vor einem Jahr zum Anspruch erklärt haben. Die Diskussion zwischen Union, FDP, SPD und Grünen bewegten sich von Anfang an weit entfernt von den alternativen Berechnungen der Sozialverbände, von Experten oder der Linkspartei. In der Nacht zum Mittwoch hatte Rot-Grün das letzte Mal einen neuen Berechnungsmodus vorgeschlagen, der zwar nach Meinung von SPD und Grünen „verfassungsfester“ aber eben nicht spürbar höher gewesen wäre. Schwarz-Gelb lehnte auch dies ab.

Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK hat jetzt von einem „Armutszeugnis für die Politik“ gesprochen. Für die Hartz-IV-Empfänger, so Ulrike Mascher, müsste der Eindruck entstehen, dass es bei den Gesprächen „weniger um die Verbesserung ihrer Lebenssituation, sondern eher um Positionskämpfe der Parteien geht“. Auf genau diese dürfte sich in den nächsten Tagen die Diskussion konzentrieren: Die Frage nach möglichen Wackelkandidaten im Bundesrat und nach den parteipolitischen Siegern und Verlierern der Hartz-Verhandlungen. Hat SPD-Frau Schwesig die bessere Figur gemacht, war es richtig, dass Kanzlerin Merkel noch selbst in die Verhandlungen eingriff, ist CDU-Ministerin von der Leyen nun beschädigt? Nichts anderes war gemeint, wenn die Vertreter der Parteien davon sprachen, es werde keinen Kompromiss „um jeden Preis“ geben.

Die Koalition wird den bisher erreichten Verhandlungsstand am Mittwoch in den Vermittlungsausschuss und am Freitag in die Länderkammer einbringen. Dort könnte, so die schwarz-gelbe Hoffnung, das Geld locken: der Bund, so lautete ein Zwischenergebnis der Verhandlungen, übernehme die Kosten für die Grundsicherung für arme Rentner, was die Kommunen bis 2015 um zwölf Milliarden Euro entlasten würde. „So ein Angebot kommt nicht wieder“, lockte von der Leyen. Grünen-Fraktionschef Fritz Kuhn hat nach dem Scheitern der Gespräche erklärt, er sei „zuversichtlich, dass die Regierung am Freitag im Bundesrat keine Mehrheit findet“. Auch die Sozialdemokraten zeigten sich sicher, dass im Bundesrat kein Land mit SPD- oder Grünen-Beteiligung umkippt – Merkel dürfte dass Saarland, Thüringen und Sachsen-Anhalt im Auge haben.

Scheitern im Zweifel besser

Die Linke war von den Verhandlungen im kleinen Kreis ausgeschlossen, was Gregor Gysi als „inakzeptabel“ kritisiert – worüber die Partei aber nicht allzu traurig sein wird, hängt ihr als einziger im Bundestag vertretenen Kraft doch nun das Scheitern nicht an. Mit dem Ergebnis hatte natürlich auch Gysi schon gerechnet, und Klaus Ernst hatte einen solchen Ausgang sogar herbeigewünscht: „Ein Scheitern der Verhandlungen ist im Zweifelsfall besser“, wurde der Linkenchef vor Beginn der letzten Runde zitiert. Es gebe „effektivere Wege, um Schwarz-Gelb zu treiben“, zum Beispiel öffentliche Proteste und der Klageweg, zu dem auch Sozialverbände die Bezieher des Arbeitslosengeldes II inzwischen aufrufen.

Die Volkssolidarität sieht inzwischen nur noch in einem Runden Tisch eine Chance zu einer Einigung, die nicht bloß vom Takt der parlamentarischen Konkurrenz bestimmt wird, sondern auch von den berechtigten Ansprüchen der Betroffenen. „Wenn die Parteien an einer Lösung der Aufgabe scheitern“, so Präsident Gunnar Winkler, müsse über einen neuen Ansatz nachgedacht werden. „Die eigentliche Ursache liegt in einem Demokratiedefizit des Entscheidungsprozesses.“

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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