Abgelaufene Geschichte: Die SPD und der Programmentwurf der Linken

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Mal angenommen, die SPD würde eine Programmdebatte führen. So abwegig ist der Gedanke eigentlich nicht angesichts der Krise einer Partei, die Millionen Wähler, Hunderttausende Mitglieder, intellektuelle Substanz und politisches Profil verloren hat. Die von Sozialdemokraten gepflegte Rhetorik des Neuanfangs wirft nicht nur die Frage nach der selbstkritischen Bilanz von zehn Regierungsjahren und Korrekturen bei konkreten Konzepten auf. Sondern auch die nach der „großen Erzählung“, einem Rahmen, in dem die politische Bearbeitung der kapitalistischen Dreifachkrise (Ressourcen, Umwelt, Akkumulation) ablaufen soll.

Aber die SPD führt keine solche Debatte. Vielleicht aus Angst, die Antwort auf die Frage, ob das Hamburger Programm von 2007, entstanden in für die Partei konfliktreichen Zeiten, noch tragfähige Grundlage sein kann, würde die Sozialdemokratie noch weiter zerreißen. Stattdessen lästert man über den Programmentwurf der Linkspartei. Das hat was von Projektion, mindestens aber ist es Pfeifen im Walde.

Man kann das nun vorgestellte Papier der Linkspartei schlecht finden, unzureichend, in seinem inneren Aufbau altbacken. Man kann die Antworten darin falsch halten und beklagen, dass nicht klar wird, auf welchem Wege die gesteckten Ziele erreicht werden sollen. Man kann über die Analyse der Gegenwart diskutieren und über die Bewertung der Vergangenheit. All das wäre einen Streit wert – auch für die SPD. Die muss die Linkspartei als Fleisch von ihrem Fleische betrachten. Und eine Programmdebatte unter der Überschrift „Demokratischer Sozialismus“ müsste die Sozialdemokraten schon deshalb interessieren, weil sie dieses Ziel für sich selbst beanspruchen. Es ist ein Programmstreit auf ihrem ureigenen Territorium, so wie seit bald 100 Jahren schon, in denen man „Sozialdemokratie“ immer auch als erweiterten Raum verstehen konnte, auf dem ganz unterschiedliche Linke Formationen um Hegemonie rangen.

Die Fragen, zu denen die Linkspartei mit dem Programmentwurf eine Antwort suchen, bewegen viele in der SPD (und noch weit mehr, die sich für Parteien inzwischen gar nicht mehr interessieren): Wie will man Gerechtigkeit herstellen, wenn die Verteilungsspielräume, auf die man bisher setzte, überwiegend aus für soziale und ökologische Ziele blindem Wachstum entstehen? Lässt sich mit Regulierung auf dem Finanzmarktsektor eindämmen, was in Wahrheit die Krise einer ganzen Produktions- und Lebensweise ist? Auf welche Weise sollen die zerstörerischen Potenziale einer kapitalistischen Logik begrenzt, eingehegt, überwunden werden, wenn nicht über Eingriffe in Verfügungsherrschaft und Eigentum – sei es auf dem kurzen Weg über drastische Steuern, sei es, man nimmt den langen und macht sich über andere Formen Gedanken? Wie kann man die Demokratie demokratisieren? Und so weiter.

Generalsekretärin Andrea Nahles, die einmal als Wortführerin des linken Flügels ihrer Partei galt, hat auf keine dieser Fragen Bezug genommen, sondern den Programmentwurf der Linken gleich erst einmal für erledigt erklärt. Alles „DDR-Nostalgie“ und „kleinbürgerliche Allmachtsphantasien“, mit denen „kein Staat zu machen“ ist. SPD-Vize und Ex-Arbeitsminister Olaf Scholz spricht von einem „Programm voller wilder Worte und unerwachsener Verstaatlichungsforderungen“. Und der wirtschaftspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Garrelt Duin, hält den Entwurf gar für „komplett gaga“. Nahles‘ Satz vom „widersprüchlichen Sammelsurium, das die Probleme dieser Partei offenbart“ fällt aber auf die SPD selbst zurück. Besser als mit Nahles Worten lässt sich nämlich der Zustand der Sozialdemokraten nicht beschreiben.

Zerrissen schreitet man voran, die Richtung unklar, die Ziele nebulös. Einerseits will man enttäuschte Wähler und Mitglieder zurückholen – und andererseits die Erfinder der Agenda nicht brüskieren; einerseits will man „Schwarz-Gelb stoppen“, andererseits sich die Chance auf Kooperation mit der Union nicht verbauen; einerseits will man die Wortführerschaft in der Opposition beanspruchen, andererseits bietet man der Regierung ein „Bündnis für Vernunft“ in der Steuerpolitik an. Der „demokratische Sozialismus“ hängt wie ein altes, verstaubtes Kostüm im Traditionsschrank der SPD. Worin „eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft“ bestehen soll, die im Hamburger Programm als Ziel der SPD markiert ist, bleibt unklar – ebenso wie der Weg dorthin. Franz Walter sieht darin – wie viele andere auch – nicht nur ein Selbstverständnisproblem nach großen Wahlpleiten, sondern eine Krise von historischen Ausmaßen: „Die Sozialdemokratie, wie wir sie kannten von 1863 bis 1973“, diese „Geschichte ist abgelaufen“. Und eine neue hat noch nicht begonnen, weil das Drehbuch dazu fehlt.

Erst einmal streiten die potenziellen Autoren weiter. Sigmar Gabriel hat es zwar geschafft, die Flügel der SPD zu disziplinieren, aber der Dissens in Sachfragen und Wertevorstellungen, der in ihrer Existenz zum Ausdruck kommt, ist keineswegs vom Tisch. Die Partei produziert ständig Kompromisse ohne Substanz – und ist darin der Linkspartei, die auch ständig zwischen ihren Strömungen ausgleichen muss, gar nicht so unähnlich. Juso-Chefin Franziska Drohsel kritisiert die Vorschläge des Arbeitsmarktpapiers der SPD als „noch nicht ausreichend“; Agenda-Architekt Frank-Walter Steinmeier lobte „der Kern der Reformen ist erhalten geblieben“ – und lässt im Spiegel-Interview durchblicken, dass es ganz so einmütig in dieser Frage nicht gewesen sein kann: „Es lagen ja ganz andere Vorstellungen auf dem Tisch.“

Andrea Nahles hat am Programmentwurf der Linken kritisiert, dieser halte es für nötig, sich an der SPD abzuarbeiten, was zeige, dass die Partei von Lafontaine und Co. keine programmatischen Alternativen hat. Dabei ist es genau anders herum: Frau Nahles muss sich an der Linkspartei abarbeiten, damit die Leute nicht gleich merken, dass die SPD keine programmatischen Alternativen hat – nicht zur Linkspartei, denn darum geht es gar nicht, sondern zur politischen Bearbeitung der kapitalistischen Dreifachkrise.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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