Agenda 2010, die Fortsetzung

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Die aktuelle Reformdebatte zwischen Totalrevisions-Rhetorik und Zwangsarbeits-Forderung – unvollständiger Versuch, sich einen Überblick zu verschaffen:

Fünf Jahre nach Inkrafttreten von Hartz IV, dem Kernstück des sozialpolitischen Umbaus der rot-grünen Regierung, pochen Wohlfahrtsverbände auf eine „Totalrevision“, hält die Linkspartei an ihrer Formal „Hartz muss weg“ fest, strebt der nordrhein-westfälische CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers eine "Grundrevision" an, denkt dessen Parteifreundin und zuständige Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen über eine „Totalveränderung“ nach und werben die Städte und Gemeinden um eine Korrektur des bürokratischen Monsters (mehr unter anderem hier). DGB-Chef Michael Sommer will die Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose und die Ein-Euro-Jobs "auf den Prüfstand" stellen. Wird nun alles besser oder zumindest neu?

Damit ist kaum zu rechnen. Wenn neuerdings von Hartz-Reformen die Rede ist, sind nicht mehr jene gemeint, mit denen die rot-grüne Bundesregierung seit 2002 „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ durchsetzte. Es geht inzwischen um die Reform der Reform - wobei vereinfachend gesprochen die politische Frontlinie zwischen jenen verläuft, die mehr oder weniger deutlich auf re-formatio drängen, also auf eine Wieder-Gestaltung hin zu früher existierenden Regeln. Und die anderen unverhohlen eine Weiterentwicklung, man könnte auch sagen: Verschärfung der Armutsgesetze anpeilen.

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Die Debatte reicht vom Vorschlag des hessischen Berufsprovokateurs Roland Koch für eine Arbeitspflicht bis zur Forderung der Linkspartei („Hartz muss weg“). Sie ist aufgespannt in einem großen Raum, vollgestellt mit den unterschiedlichsten Motiven: Mal geht es um wahlpolitische Sozialfolklore vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, mal um parteipolitische Richtungskämpfe oder die Sorge, klientelistische Steuerentlastungen könnten ohne Absenkung sozialpolitischer Leistungen nicht zu finanzieren sein. Nicht selten treibt aber auch tatsächlich der Wille zur Änderung des grassierende Armutsproblems und seinen herunterziehenden Wirkungen auf den Arbeitsmarkt an - häufig soll freilich auch nur eine „bessere Performance“ der Sozialbürokratie erreicht werden. Kleiner Versuch, sich einen unvollständigen Überblicks zu verschaffen:

„Abteilung Vorurteile“: Nicht nur Roland Koch fordert eine Arbeitspflicht als Gegenleistung öffentliche Unterstützung, ähnliche Vorschläge tauchen immer wieder auf, zuletzt unter anderem vom „Wirtschaftsweisen“ Wolfgang Franz, der zugleich zu einer drastischen Regelsatz-Senkung auf 251 Euro riet. Worum es hier geht, hat CDU-Mann Koch in aller Deutlichkeit erklärt - um eine Art soziale Bestrafung: Man müsse „Instrumente einsetzen, damit niemand das Leben von Hartz IV als angenehme Variante ansieht“. Der Vorstoß hat viel Empörung ausgelöst, DGB-Chef Sommer sagte, offenbar sei Koch „in der Klausurtagung der CDU auserkoren worden, in der ,Abteilung Vorurteile der Stammtische' im Trüben zu fischen“.

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Reform der Reform: Eine große Koalition, die von der FDP bis zur CSU reicht, strebt verschiedene kleinere Korrekturen am Hartz-System an: Dazu gehört unter anderem die Anhebung des Schonvermögens. Dies ist bereits im schwarz-gelben Koalitionsvertrag vereinbart - künftig sollen danach nicht mehr 250, sondern 750 Euro pro Lebensjahr für die Altersvorsorge unantastbar bleiben. Die SPD-Spitze fordert inzwischen eine Lösung, nach der ältere Erwerbslose ihr Vermögen komplett behalten dürfen, wenn sie 30 oder mehr Jahre gearbeitet haben. Allerdings gibt es weitergehende Forderungen aus einigen sozialdemokratischen Landesverbänden - etwa aus Hessen. Agenda-Architekt Frank-Walter Steinmeier hat vorsichtshalber vor einer „Rolle rückwärts“ gewarnt. Auch der Vorstandschef der Nürnberger Arbeitsagentur, CDU-Mitglied Frank-Jürgen Weise, hat vor einem "Totalumbau" gewarnt, weil das die "gute Entwicklung am Arbeitsmarkt" gefährden würde.

Diskutiert wird auch über die Erhöhung der Hinzuverdienstgrenzen - der schleswig-holsteinische FDP-Sozialminister Heiner Gerg beispielsweise wird mit den Worten zitiert: „Wer arbeiten geht, sollte bis zu 50 Prozent seines Verdiensts behalten dürfen.“ Weiterhin steht die Reform der Jobcenter an, die nach einem Urteil des Bundesverfassungsgericht unumgänglich ist. Und schließlich die Anpassung der Hartz-IV-Regelsätze: Bundesarbeitsministerin von der Leyen hat Hoffnungen auf eine rasche Erhöhung gedämpft, man wolle erst den Spruch aus Karlsruhe abwarten. Dieser könnte eine völlig neue Berechnung der Leistungen nach sich ziehen. Die Grüne Arbeitsmarktexpertin Brigitte Pothmer fordert dagegen eine schnelle Erhöhung, die Forderung wird auch bei Gewerkschaften und der Linkspartei erhoben. Auch die Wohlfahrtsverbände streben eine schnelle Anhebung an - von 359 auf 420 Euro.

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Die Städte und Gemeinden haben vorgeschlagen, die Unterkunftskosten pauschal und entsprechend dem regionalen Mietspiegel inklusive der Nebenkosten festzusetzen. Die Jobcenter, so heißt es, müssten sich dann nicht mehr mit einzelnen Strom- und Gasrechnungen befassen. Der Präsident der Deutschen Rentenversicherung Bund warnte inzwischen vor zunehmender Altersarmut. Die ohnehin schwierige Lage der Langzeiterwerbslosen verschärfe sich, da sich die Monatsrenten für ein Jahr Bezug von Arbeitslosengeld II nur noch um 2,09 Euro erhöhten - 2009 waren es noch 2,17 Euro.

Alternativen: Die Linkspartei hat vor einer „Aufschiebung der Hartz-IV-Reform bis 2011“ gewarnt. Fraktionsvize Klaus Ernst erklärte: „Das Arbeitslosengeld I muss in der Krise auf 24 Monate verlängert werden, damit weniger Menschen in Hartz IV fallen. Wir brauchen endlich den Mindestlohn. Wenn niemand weniger als zehn Euro pro Stunde verdienen würde, dann wäre sicher gestellt, dass jemand mit einem Vollzeitjob nicht zusätzlich Hartz IV beantragen muss. Gleichzeitig müssen die Hartz IV-Sätze deutlich angehoben werden. Und wir brauchen strengere Regeln für zumutbare Arbeit, damit Arbeitslose nicht mehr gezwungen sind, für jeden Hungerlohn zu arbeiten. Diese Änderungen wären schnell und ohne großen Aufwand umsetzbar. Das ist lediglich eine Frage des politischen Willens.“

Ernst hat allerdings auch darauf hingewiesen, dass letztlich „Hartz IV nicht reformierbar“ sei. In der Linkspartei werden neben Sofort-Forderungen unter anderem zwei sozialpolitischen Alternativen debattiert - eine bedarfsgerechte Grundsicherung und das Bedingungslose Grundeinkommen. Die Grünen „wollen eine wirkliche Grundsicherung“ - mehr dazu hier und hier. Beim DGB findet man diverse Stellungnahmen und Papieren zum Thema Hartz IV. Gleiches gilt für die Sozialverbände - hier beispielswiese zum SOVD, hier beim Paritätischen Wohlfahrtsverband.

Es gibt selbstverständlich auch weiter gehende Forderungen - etwa aus dem Bündnis der Krisenproteste (mehr hier) und im Umfeld von Attac. Abschließend, und ohne sich der Illusion hinzugeben, dass damit schon alles gesagt wäre, sei an Georg Fülberths "Pink, Grey, Red, Blue - Revolution" erinnert, verstanden als eine erste Etappe einer grundlegenden sozialen Transformation: Eine Umwälzung zugunsten der Jungen, der Rentnern, der von Lohn- oder Transfereinkommen Abhängigen und der Antikriegskräfte, deren ökologische Dimension vorausgesetzt wird. Nachzulesen unter anderem in diesem Sammelband.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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